Fruchtbarkeit - 1
ein geräumiges Zimmer, mit perlgrauer, blaugeblümter Tapete bekleidet. Von den drei kleinen Eisenbetten standen zwei nebeneinander, das dritte querüber, eins vom andern durch ein Nachtkästchen und einen Stuhl getrennt. Die Einrichtung bestand dann noch aus einer Kommode, einem Kleiderschrank und sonstigem zusammengetragenem Mobiliar eines Hotelzimmers. Aber durch die zwei Fenster, die auf die graue Mauer sahen, hinter welcher sich die Kaserne befand, fiel um diese Stunde heller Sonnenschein herein, dessen Strahlenbündel ihren Weg zwischen zwei hohen Häusern der Nachbarschaft fanden.
»Ja, es ist nicht übel,« sagte er.
Er hatte sich gegen das dritte Bett gewendet und hielt inne, als er, vor diesem Bette stehend, eine lange, schwarze Gestalt gewahrte, die er bisher nicht bemerkt hatte. Es war ein großes Mädchen von unbestimmbarem Alter, dürr und mager, mit ernstem Gesichte, matten Augen und blassem Munde. Sie hatte weder Hüften noch Brust, einen flachen Leib, gleich einem halbbearbeiteten Brett. Sie war im Begriffe, die Riemen eines Koffers zu schließen, der neben einem Reisesack auf dem offenen Bette lag. Als sie sich sodann der Tür zuwendete, ohne auch nur einen Blick auf den Besucher zu werfen, hielt Norine sie an. »Sie sind also fertig und gehen nun, Ihre Rechnung bezahlen?«
Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie verstand, und antwortete dann ruhig, mit starkem englischen Akzent: » Yes, bezahlen.«
»Aber Sie kommen wieder herauf, nicht wahr, damit ich Ihnen Adieu sagen kann?«
» Yes, yes.«
Als sie draußen war, sagte Norine, daß sie Amy heiße, daß sie ein wenig Französisch verstehe, aber kaum einige Worte sprechen könne. Und sie hätte die ganze Geschichte erzählt, wenn sich nicht Mathieu zu ihr ans Bett gesetzt und sie unterbrochen hätte. »Ich sehe also, daß bei Ihnen alles gut geht und daß Sie zufrieden sind?«
»Oh, ich bin sehr zufrieden! Nie im Leben habe ich’s so gut gehabt, gutes Essen, gute Pflege, von früh bis abends nichts zu tun, als sich zu hätscheln. Ich habe nur den einen Wunsch, daß es so lange als möglich dauern möge.«
Sie lachte fröhlich, unbekümmert um die Zukunft, ohne auch nur an das kleine Wesen zu denken, welches sie unterm Herzen trug. Vergebens suchte er das Muttergefühl in ihr zu wecken, indem er sie fragte, was sie dann tun werde, welche Pläne sie habe. Sie verstand ihn nicht einmal, glaubte, daß er von dem Vater spreche, zuckte die Achseln und sagte, daß sie sich nicht um ihn kümmere, daß sie nie so dumm gewesen sei, auf ihn zu rechnen. Ihre Mutter hatte sie am Tage nach ihrer Aufnahme besucht. Aber dieser gutherzige Besuch erweckte ihr keinerlei Täuschung, sie rechnete auch auf ihre Familie nicht, wo es nicht Brot für alle gab. Du lieber Gott, sie werde schon sehen. Ein hübsches Mädchen in ihrem Alter sei nicht in Verlegenheit. Sie streckte sich behaglich in ihrem weißen Bette aus, glücklich, sich jung und begehrenswert zu wissen, bereits besiegt von dieser warmen Trägheit, von dem Verlangen erfaßt, nur mehr solche wohlige Morgen zu haben, nun sie ihre weiche Annehmlichkeit gekostet hatte.
Dann kam sie wieder stolz auf den feinen Ton, auf die hohe Anständigkeit des Hauses zu sprechen, als ob ihr selbst dadurch ein höherer Glanz verliehen würde. Sie stieg dadurch um eine Klasse. »Man hört keinen Streit, kein lautes Wort. Alles ist hier sehr anständig. Es ist entschieden das bestgehaltene Haus des Viertels, Sie können in alle Winkel sehen und werden nirgends Schmutz finden. Natürlich kommen keine Prinzessinnen hierher, aber von dem Augenblicke, da man sich zu benehmen weiß, ist es gleichgültig, woher man kommt, nicht wahr?«
Sie wollte ein Beispiel anführen.
»Sehen Sie, das dritte Bett dort, neben dem der Engländerin, das gehört einem achtzehnjährigen Dienstmädchen. Sie hat ihren wahren Namen angegeben, Victoire Coquelet, und sie macht kein Geheimnis aus ihrer Geschichte. Gleich nach ihrer Ankunft aus ihrem Heimatsdorfe gerät sie in das Haus eines Mannes, der sich mit allerlei dunkeln Geschäften befaßt, und dessen Sohn, ein langer Bengel von zwanzig Jahren, verführt sie in der Küche, fünf Tage nach ihrer Ankunft. Was wollen Sie? Sie war ganz unerfahren, sie ist noch heute ganz betäubt von der Sache und weiß nicht recht, was geschehen ist. Natürlich hat die Mutter des langen Bengels sie fortgejagt. Die arme Kleine ist auf der Straße aufgelesen worden, und die Armenverwaltung hat sie hier
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