Fruchtbarkeit - 1
ist nicht alles. Das merkwürdigste ist, daß Madame Charlotte im Begriffe ist, das Haus zu verlassen. Man hat eben nach einem guten Wagen für sie geschickt.«
Die beiden andern entsetzten sich. Sie wollte sich also umbringen! Eine Frau, deren Entbindung so schmerzhaft gewesen zu sein schien, und welche, noch ungeheilt, aufstand, einen Wagen nahm und nach Hause zurückkehrte! Das mußte ja mit Sicherheit zu einer Bauchfellentzündung führen. War sie denn toll?
»Ja,« fuhr das Mädchen fort, »sie kann aber nicht anders, wenn sie sich nicht dem größten Unglück aussetzen will. Sie können sich wohl denken, daß die arme Dame es vorziehen würde, ruhig in ihrem Bett zu bleiben. Aber Sie erinnern sich ja an das, was man sich erzählt hat. Nicht wahr, Mademoiselle Rosine, Sie wissen alles, die Dame hat Sie ja ins Herz geschlossen und Ihnen ihre Lebensgeschichte vertraut?«
In der Tat, Rosine mußte zugeben, daß sie viele Dinge wußte. Und es war wieder eine entsetzliche Geschichte, die Mathieu mit anhörte, während sich ihm das Herz zusammenkrampfte. Madame Charlotte, eine Brünette von dreißig Jahren, großgewachsen, mit feinen Zügen, schönen, weichen Augen und einem Munde voll Liebreiz und Güte, hieß vermutlich Madame Houry, was man aber nicht sicher wußte; sicher schien jedoch, daß ihr Mann ein Handelsreisender war, der nach Persien und Indien reiste, um dort für ein großes Haus Teppiche, Stickereien und Tapeten einzukaufen. Man sagte, er sei brutal, von wilder Eifersucht beherrscht, behandle seine Frau schlecht, fahre sie bei der geringsten Veranlassung roh an. Sie hatte der trostverheißenden, süßen Lockung nachgegeben, sich einen Geliebten zu nehmen, einen ganz jungen Mann, einen einfachen, kleinen Angestellten, der sie mit Zärtlichkeit überschüttete. Das Unglück wollte, daß sie schwanger wurde. Anfangs beunruhigte sie dies nicht zu sehr, denn ihr Mann war für ein Jahr verreist; sie hatte es sich ausgerechnet, sie würde bis zu seiner Rückkehr entbunden und genesen sein. Sie begnügte sich also damit, ihre hübsch eingerichtete Wohnung in der Nähe der Rue de Rennes zu verlassen, als sie fürchtete, daß ihr Zustand sichtbar werden könnte, und sich aufs Land zurückzuziehen. Und hier erhielt sie, zwei Monate vor ihrer wahrscheinlichen Niederkunft, einen Brief ihres Mannes, worin er ihr ankündigte, daß er seine Rückkehr vermutlich beschleunigen werde. Man kann sich nun vorstellen, in welch qualvollem Seelenzustande die arme Frau sich von da ab befand. Sie rechnete wieder und wieder, geriet in Verwirrung, wurde zu Tode geängstigt durch Möglichkeiten, welche aus Tatsachen folgten, deren sie sich nicht mehr genau erinnerte. Endlich, als sie glaubte, daß ihre Niederkunft in höchstens vierzehn Tagen erfolgen würde, suchte sie Zuflucht bei Madame Bourdieu unter dem Schutze tiefsten Geheimnisses. Hier vermehrten sich ihre Qualen, denn ein neuer Brief ihres Mannes teilte ihr mit, daß er am fünfundzwanzigsten dieses Monats in Marseille eintreffen werde. Man schrieb den sechzehnten, neun Tage noch. Sie zählte die Tage, dann zählte sie die Stunden. Würde ihr ein kleiner Vorsprung gegönnt sein, würde es zu spät werden? Es war ihre Rettung oder ihr Verderben, was sich entschied, unabhängig von ihrem Willen, während sie aus einem Weinkrampf in den andern fiel, in steigender tödlicher Angst dem Wahnsinn nahe kam. Ein jedes Wort der Hebamme machte sie am ganzen Körper zittern, und sie befragte sie jede Minute aufs neue mit ihrem armen, angstverzerrten Gesichte. Nie hatte ein unglückseliges Geschöpf die Freude, eine Stunde geliebt worden zu sein, mit solchen Höllenqualen bezahlt. Endlich, am Morgen des fünfundzwanzigsten, als sie schon in hoffnungslose Verzweiflung verfallen war, traten die ersten Wehen auf, und sie küßte vor Freude darüber Madame Bourdieu die Hände, trotzdem sie schrecklich litt. Um das Unglück voll zu machen, dauerten die Wehen den ganzen Tag und fast die ganze Nacht; sie wäre nach allem nun doch verloren gewesen, wenn ihr Mann nicht hätte in Marseille übernachten müssen. Er würde erst die folgende Nacht eintreffen; und gegen fünf Uhr morgens entbunden, hatte sie also eine Gnadenfrist bis zum Abend, um ihre Wohnung zu erreichen, eine Krankheit vorzuschützen, irgendeinen plötzlichen Blutverlust, der sie zwinge, im Bett zu bleiben. Aber welch grauenhaftes Aufstehen vom Wochenbett, welch verzweifelter Todesmut, um sich so halbtot zu erheben und wieder
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