Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Keylam schien vielmehr erleichtert zu sein. Er wusste, was eine Muse ist, und die Furcht, dass seine Kunst nicht ausreichend sein könnte, um einen von uns zu beeindrucken, war viel größer als alle anderen Bedenken.“
„Aber ... Wie kann das sein? Du hast doch gesagt, dass Musen gefährlich sind.“
„Dem ist auch so“, entgegnete Harold mit Nachdruck. „Trotzdem werden sie nicht automatisch von allen gefürchtet. Ich zum Bespiel kenne außer dir niemanden, der sich jemals mit einem Kelpie angefreundet hätte. Zudem hast du es des Nachts sogar allein aufgesucht. Jeder andere hätte dir deshalb einen handfesten Dachschaden bescheinigt. Aber deshalb denkst du doch nicht wie alle anderen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Du hast damals eben einen Weg gefunden, ihm zu vertrauen, und genauso hat er dir vertraut.“
„Also wenn ich dich richtig verstehe, willst du mir damit sagen, dass es doch Mittel und Wege gibt, einer Muse zu entkommen?“
„Hm ... Bis zu einem gewissen Punkt besteht diese Möglichkeit durchaus. Es kommt darauf an, ob du schon von ihr geküsst wurdest. Ein Kuss besiegelt alles. In dem Fall kannst du es höchstens hinauszögern, indem du deine Muse auf Abstand hältst. Irgendwann ist sie wie eine Droge. Du musst nur stark genug sein, sie abzuweisen.“
„Aber er hat mich doch geküsst. Vorhin, als wir uns wiedergefunden haben“, entgegnete sie erschrocken.
Harold winkte ab. „Küsse auf den Kopf zählen nicht, und alle anderen Körperstellen sind ebenfalls höchst uninteressant. Nur der Kuss auf den Mund ist gefährlich.“
Erleichtert ließ Arrow ihre Schultern sinken. Einen Augenblick zuvor hatte sie schon das Schlimmste befürchtet. Doch als sie ihre Gedanken für eine Sekunde abschweifen ließ, schüttelte sie sich und griff dann nach ihrer Wasserflasche. „Jetzt habe ich schon gedacht, dass du mir gleich erzählen wirst, du hättest Keylam geküsst.“
„Habe ich auch“, erwiderte Harold ganz selbstverständlich und konnte anschließend noch gerade ausweichen, als Arrow ihr Wasser auf diese Worte hin in hohem Bogen wieder ausspuckte.
„Aber du hast doch eben gesagt, dass nach einem Kuss alles zu spät ist“, presste sie zwischen einem kräftigen Hustenanfall hervor.
„Bei mir und Keylam war es aber anders. Wenn du mich nicht ständig mit all deinen blöden Fragen unterbrechen würdest, hätte ich dir schon davon erzählt.“
Angewidert verzog sie ihr Gesicht. „Manche Dinge sollten lieber unausgesprochen bleiben.“
„Nun hör schon auf zu jammern. Während du dir diese Art von Zärtlichkeit zwischen ihm und mir nur vorstellst, musste ich euch oft genug in der Realität dabei zuschauen. Das habe ich auch nicht besonders appetitlich gefunden. Aber jedem das seine...“
„Ich spreche auch nicht unbedingt davon, dass ich etwas gegen die Liebe zwischen Männern habe...“, entgegnete Arrow schnippisch, und während die Worte noch nicht ganz ihren Mund verlassen hatten, tat ihr diese Bemerkung auch schon wieder leid.
Harold fühlte sich offenbar nicht davon verletzt. „Früher habe ich auch noch anders ausgesehen. Ich weiß sehr wohl um meine Erscheinung, kann daran aber auch nichts ändern. So ist das eben, wenn eine Muse von ihresgleichen verstoßen wird.“
Und da war er plötzlich – der schwache Schatten in seinen Augen. Es gab Wesen, deren Augen leuchteten ununterbrochen. Dann gab es Geschöpfe, in deren Augen überhaupt nichts zu finden war. Aber der Schatten in Harolds Augen war bei weitem das Schlimmste. Es bedeutete noch weniger als bloße Gleichgültigkeit und war nicht einfach nur nichts, sondern weniger als nichts.
„Auf jeden Fall“, fuhr Harold fort, „habe ich eines Tages Darren kennen gelernt. Er hat schon lange vor meiner Zeit im Schloss gewohnt und war während meines Auftauchens auf Reisen gewesen. Plötzlich war da ein so seltsames und gleichzeitig auch unbeschreiblich starkes Gefühl. Es heißt immer, dass Musen ihre Künstler trotz aller Tragik auch lieben. Doch in jenem Moment, als ich ihm zum ersten Mal in die Augen gesehen und seine Stimme vernommen hatte, ist mir bewusst geworden, dass das nicht stimmte. Natürlich habe ich für meine Künstler auch immer eine gewisse Zuneigung empfunden, doch wirklich richtig geliebt habe ich keinen Einzigen von ihnen.
Ich frage mich selbst heute noch, ob ich Darren jemals kennen gelernt hätte, wenn mir eine andere Muse bei Keylam zuvorgekommen wäre. Und dann denke ich daran, welch unglaublich
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