Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Kehle zu. Sie hoffte, dass ihr irgendein Geräusch darüber Aufschluss geben mochte, was gerade geschah, doch es herrschte Totenstille. Mit jeder Sekunde, die verging, verkrampfte sie sich mehr. Vielleicht würde es ihr helfen, an etwas Schönes zu denken, an etwas, das ihren Kopf frei machte. Doch was sollte das sein? Was würde jetzt am besten, am schnellsten gelingen?
Der Wind natürlich!
Voller Konzentration ging Arrow jedes einzelne Wort der Geschichte in ihren Gedanken durch. Inzwischen hatte sie diese Passage schon so oft gelesen, dass sie sie im Schlaf aufsagen konnte.
Der Nachtwind hat eine böse Art, um ein Gebäude solcher Gattung herumzustreichen, dabei zu seufzen und zu klagen und mit unsichtbarer Hand an Fenster und Türen zu rütteln, um ein Luftloch zu finden, durch das er hineinkommen kann. Und wenn er sich eingeschlichen hat, wimmert und heult er, als ob er etwas suche und nicht finden könne, will wieder hinaus und gibt sich nicht zufrieden damit, durch die Gänge zu fahren und um die Pfeiler zu sausen und auf die brummende Orgel zu schlagen – nein, er möchte auch noch hinauf und das Sparrenwerk zertrümmern. Dann wirft er sich wieder verzweifelt auf den steinernen Fußboden hin und steigt murmelnd in die Grabgewölbe. Heimlich kommt er wieder herauf, schleicht die Mauern entlang und liest leise flüsternd die Inschriften der Toten. Bei der einen bricht er in schrilles Gelächter aus, bei der nächsten klagt er und seufzt er. Es klingt so gespenstisch, wenn er sich hinter dem Altare versteckt und wilde Weisen singt von Übeltat und Mord, von der Anbetung der Götzen zum Trotze der Gesetzestafeln, die so glatt und schön aussehen und doch so oft schon besudelt und gebrochen wurden. Hu! Der Himmel bewahre uns und lasse uns ruhig und traulich am Feuer sitzen.
Plötzlich ließ sie das Aufheulen des Fenriswolfes zusammenzucken und sie öffnete erschrocken ihre Augen.
Hitze strömte durch ihren Körper und die Gedanken flatterten durch ihren Kopf wie aufgescheuchte Fledermäuse. Mehr als je zuvor betete sie zum Himmel und flehte, dass die großen eisblauen Augen, in die sie gerade schaute, nicht die des Frostriesen waren. Doch sein Blick bohrte sich wie ein spitzer Stachel in ihre Seele. Und in dem Moment, da der Schmerz nachließ, wusste Arrow, dass er sie entdeckt hatte.
Voller Panik befreite sie sich von ihrer schützenden Decke und sprang auf. Ihre Glieder schmerzten noch immer von der Kälte, doch ihr Überlebensinstinkt trieb sie auf eine Weise voran, mit der sie sich dem Wahnsinn nahe fühlte. Aber ihre Mühe war umsonst, denn der Frostriese packte sie mit seiner gewaltigen Hand, schaute sie an und nickte seinem Begleiter zu. Es bedeutete, dass sie die gesuchte Person war und die Riesen ihre Mission erfüllt hatten.
Als der Fenriswolf erkannte, in welch auswegloser Situation sie sich befand, mobilisierte er erneut all seine Kräfte und befreite sich endlich aus den Fängen des anderen Riesen. Doch es gelang ihm nicht, Arrow zu Hilfe zu kommen, denn sein Gegner stieß ihn mit einem Hieb außer Sichtweite und lief ihm anschließend hinterher.
Jetzt war Arrow mit dem Riesen allein. Obwohl der Kampf längst verloren war, suchte sie in ihren Gedanken noch immer nach einer Lösung. Das durfte einfach nicht das Ende sein! Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben. Sie war ihrem Ziel so nahe und konnte jetzt um keinen Preis scheitern.
Verzweifelt schlug sie mit ihren Fäusten auf die Hand des Frostriesen, doch der war von ihren Schlägen so wenig beeindruckt, dass er sie nicht mal eines Blickes würdigte. Fest hielt er ihren Körper umschlossen und marschierte mit ihr an der Grenze zum Chaos entlang.
Der dichte Nebel und das grell aufblitzende Licht ließen keinen Blick in die Welt auf der anderen Seite zu. Aber im Grunde war es ganz egal, wie es dort aussah und was darin lauerte. In Bezug auf die Welt hinter den Welten konnte sie sich nur einer einzigen Sache absolut sicher sein – dass ihr Vater sich irgendwo dort aufhielt.
Innerlich fluchte sie. Das alles konnte doch nur ein besonders abscheulicher Alptraum sein. Das passierte nicht wirklich. Dies durfte einfach nicht das Ende sein!
Arrow ging in sich. Hatte ihre Großmutter vielleicht irgendwann einmal etwas über Frostriesen erwähnt? Hatte es einen Hinweis gegeben, wie man sie unschädlich machen konnte? Anne war die klügste Frau, die Arrow je kennen gelernt hatte. Eine Situation wie diese wäre ihr sicher nicht entfallen. Sie
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