Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
sechshundertzweiundfünfzig anderen Klägern das Wort erteilt werden!“
Arrow beachtete ihn gar nicht weiter und marschierte geradewegs auf ihren Vater zu.
„Hallo“, begrüßte sie ihn liebevoll.
Kraftlos hob er seinen Kopf und schaute ihr in die Augen. Zweifellos war er noch immer das Häufchen Elend, als welches sie ihn zuletzt im Holunderwald gesehen hatte. Seine geschundene Seele trug noch immer die Narben der Selbstvorwürfe und des Selbsthasses im Gesicht. Zu viele Versprechen hatte er nicht erfüllen können und letzten Endes war er unter der unbeschreiblichen Last der gewaltigen Verantwortung, die ihm auferlegt worden war, einfach zusammengebrochen. Das erklärte auch das hübsche, beschauliche Walddörfchen bei ihrer Ankunft – eine idyllische Oberfläche mit einem zerrütteten Inneren. Die perfekte Tarnung für jemanden, der innerlich zugrunde ging.
„Erkennst du mich? Ich bin Arrow.“
Erschrocken weiteten sich Melchiors Augen. Dann wandte er seinen Blick beschämt ab.
„Du bist nicht Arrow!“, schrie das kleine Mädchen aus dem Publikum. „Ich bin Arrow, und ich warne dich. Hör auf ihn so voller Bedauern anzusehen. Dieser Mann hat keinerlei Mitgefühl verdient! Er hat schlimme Dinge getan und wird nun dafür zur Rechenschaft gezogen!“
„Und wer bestimmt das?“, fragte Arrow ihren Vater liebevoll. „Empfindest du es nicht als anmaßend, dich selbst für Dinge zu bestrafen, welche die betroffenen Personen nie so empfunden haben, wie du es dir hier gerade ausmalst? Ich kenne Elaine. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist dir nicht böse, sondern liebt und vermisst dich nach wie vor. Wir alle tun das.“
Während Melchior sie wieder zögerlich musterte, kam der Gerichtsdiener näher und stammelte entsetzt: „Du bist keine von uns.“
Da Arrow mittlerweile erkannt hatte, dass die ganzen Personen um sie herum keine eigenständigen Geschöpfe waren, sondern den Selbstzweifeln ihres Vaters entsprungen und somit ein Teil von ihm, ignorierte sie den Gerichtsdiener. Stattdessen sprach sie zu ihrem Vater, als hätte er diese Worte an sie gerichtet. „Das stimmt. Ich bin nicht deiner Fantasie entsprungen und genau betrachtet auch nicht deinen Erinnerungen. Die kleinen Haarspangen hast du mir erst viele Jahre später geschenkt und gelocktes Haar habe ich als kleines Mädchen nie getragen, sondern nur das eine Mal an dem Abend, als wir Elm Tree verlassen haben. Dad, ich bin real ...“
Tränen schossen in Melchiors Augen und zum wiederholten Male wandte er sich von Arrow ab.
„Wenn du real wärst, würdest du niemals so reden!“, sagte das kleine Mädchen, das inzwischen neben ihr stand.
„Dad, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer es für dich all die Jahre gewesen sein muss, die Bürde unseres Volkes auf deinen Schultern zu tragen. Doch mit dem Glauben, dass sie dich jetzt hassen oder verurteilen, tust du ihnen Unrecht. Ich meine, sieh mich an. Ich kann nicht leugnen, dass es mich verletzt hat, als du von uns gegangen bist. Ich denke jeden Tag an dich und bin traurig, weil ich nie wieder deine Stimme hören werde oder dich nie mehr in den Arm nehmen kann. Doch meine Beweggründe für diese Traurigkeit sind aus Liebe entstanden und nicht aus Hass.“
Arrows Augen füllten sich mit Tränen und ihre Stimme begann zu zittern. Sie sah ihren Vater an und suchte etwas in seinen Augen, das er scheinbar längst verloren hatte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob er wusste, dass sie tatsächlich seine Tochter und vor allem real war. So lange hatte sie sich gewünscht, ihn eines Tages noch einmal in ihre Arme schließen zu dürfen und ihm sagen zu können, dass sie ihn liebte. Und nun, da ihr sehnlichster Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen schien, war sie sich noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt erkannte.
„So oft hoffe ich auf ein Zeichen von dir, doch entweder nehme ich es nicht wahr oder es gibt dieses Zeichen einfach nicht. Sogar die blauen Vergissmeinnicht blühen nicht mehr.“
„Das ist sein Verdienst!“, schrie das kleine Mädchen aufgebracht. „Er hat sie nicht mehr blühen lassen, weil wir ihn vergessen sollen! Er hat gedacht, dass er mit den Blumen nicht nur die Erinnerung an ihn, sondern auch den Hass und die Wut ihm gegenüber verschwinden lassen kann!“
„Was?“, fragte Arrow schluchzend. Diese Worte machten sie wütend. Schon die ganze Zeit über hatte sie gewusst, dass es einen Grund für das Ausbleiben der blauen Vergissmeinnicht gegeben hatte.
Weitere Kostenlose Bücher