Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Dewayne hatte ihr Hirngespinste andichten wollen, als sie es ihm gegenüber angedeutet hatte. Doch nun war es eindeutig.
Mit aller Kraft versuchte sie ihren Zorn zu unterdrücken und redete beruhigend auf ihren Vater ein. „Natürlich bin ich auch manchmal wütend auf dich. Und im selben Moment bin ich auch zornig auf mich selbst, denn ich weiß nicht, ob wir noch zusammen sein könnten, wenn ich nicht diesen dummen Fehler gemacht hätte. Ich hätte dir sagen müssen, wie ich mich fühle. Irgendetwas in meinem tiefsten Innern sagt mir, dass du mich verstanden hättest. Doch das alles spielt jetzt keine Rolle mehr, denn es ist jetzt, wie es ist. Wie es aussieht, gibt es für uns beide keine Möglichkeit, diese Welt hier jemals wieder verlassen zu können. Du machst dir so große Vorwürfe, dass ich dich vermutlich nicht umstimmen kann. Und selbst wenn ich es schaffen würde, so fehlt mir die Zeit dafür, denn ich vergesse bereits. In dieser Welt bedeutet das für eine lebende Seele, dass sie im Begriff ist zu sterben. Vermutlich vergesse ich dich, deine Stimme und all die wunderbaren Momente, die ich mit dir verbringen durfte, bevor ich dich davon überzeugen kann, dass deine Schuldzuweisungen und Vorwürfe einfach nicht wahr sind.“
Unaufhaltsam liefen Arrow die Tränen über die Wangen. Sie war an diesen Ort gekommen, um ihrem Vater etwas zu sagen, und der Wunsch danach, diese Worte aussprechen zu dürfen, war so groß, dass sie dafür sogar den Tod in Kauf nahm. Denn nichts Anderes bedeutete ihre Anwesenheit in dieser Welt. Vergessen hieß sterben und so viele Dinge waren ihr bereits entfallen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm gequält zu. „Du fehlst mir.“
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Melchior sie mit dem gleichen schmerzlichen Blick an, mit dem er schon die anderen Kläger bedacht hatte, und Arrow wurde klar, dass das, was sie da gerade tat, nicht richtig war. Ihre Tränen und der Schmerz bestärkten Melchior nur in seinen Selbstvorwürfen. Er mochte vielleicht nicht wissen, wer sie war, doch das änderte nichts daran, dass er Arrows Schmerz nachempfinden konnte und sich selbst die Schuld daran gab.
„Hast du gehört?“, fuhr ihn das kleine Mädchen an. „Immer hast du jeden nur unglücklich gemacht! Wir waren dir alle egal. Und nun müssen wir für deine Fehler bezahlen.“
„Er hat unsere Kinder auf dem Gewissen!“, schrie eine alte verbitterte Frau aus dem Publikum.
„Unsere auch!“, ertönte eine wütende Männerstimme. „Immer denkt er nur an sich selbst und hat rein gar nichts für andere übrig!“
„Er hat uns bessere Zeiten versprochen und eine Zukunft, in der wir uns nicht länger verstecken müssen!“
Verzweifelt schaute Arrow in die tobende Menschenmenge. Plötzlich schien alles außer Kontrolle zu geraten. Doch was sollte sie tun? Wie konnte sie ihm denn jetzt noch beweisen, dass sie echt war, dass sie gekommen war, um ihn aus dieser grauenvollen Höhle der Vorwürfe und des Selbsthasses herauszuholen?
„Du bist Schuld!“, rief das kleine Mädchen.
Einen Moment lang musterte Arrow ihr kindliches und überaus unsympathisches Selbst und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
Furchtlos griff sie nach der Hand ihres Vaters und presste sie an ihre Brust. Er musste ihren Herzschlag einfach fühlen, denn es schien ihr vor lauter Aufregung förmlich aus dem Leib zu springen. Solange sie noch am Leben war, würde sie ihn nicht aufgeben!
„Dad, sieh mich an! Das ist nicht deine Tochter. Ich bin es! Und du bist mein Vater! Für dich habe ich gelebt und für dich bin ich im Begriff zu sterben! Ich weiß nicht, wer all diese Leute hier sind, und ich kann nicht für sie sprechen, doch offenbar war ihr Hass nicht stark genug, um dir hierher zu folgen, meine Liebe schon! Also sag mir jetzt, wie stark Deine Liebe für mich ist!“
Und plötzlich erwachte er wie aus seiner Trance. Der Bart und das weiße Haar verschwanden von einem Moment auf den anderen und vor Arrow stand endlich wieder der Mann, den sie einst gekannt und so sehr geliebt hatte.
„Ich werde Großvater“, flüsterte er mit leuchtenden Augen.
„Was?“, fragte Arrow überrascht. Und plötzlich hallten die Worte von Perseis, den Sieben Todsünden, Modgudr und Hel in ihren Gedanken wider, die ihr ein ums andere Mal beteuert hatten, dass sie eine reine Seele in ihrem Körper trug. Doch bevor sie begreifen konnte, was gerade geschehen war, verschwand die Welt um sie herum in gleißend hellem Licht.
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