Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
noch“, entgegnete er. „Ich habe es gesehen. Deine Gedanken waren so klar, dass die Bilder in meinem Kopf aufgetaucht sind, und das ist mehr, als ich nach meinem ersten Lauschen zu hoffen gewagt hatte.“
„Du kannst meine Gedanken auch sehen?“
„So etwas passiert nur bei sehr wenigen Leuten. Natürlich können viele ihre eigenen Erinnerungen im Geiste immer wieder betrachten. Doch sie so zu gestalten, dass sie auch von Anderen gesehen werden können, ist eine äußerst seltene Gabe. Es zeugt von großer Leidenschaft und Verbundenheit zu den Erinnerungen. Aber vor allem zeugt es von großer Fantasie. Deine Gedanken muteten an wie ein Bild von Claude Monet.“ Träumerisch schwärmte er von den gesehenen Bildern. Er war so fasziniert, als habe er etwas derartiges noch nie erlebt. „Monet ist ein Maler“, beantwortete Shoes Arrows fragenden Blick. „Letztes Jahr hat ein Kunsthändler auf der Durchreise hier Halt gemacht. Er hat mir einige von Monets Bildern gezeigt und von ihm in den höchsten Tönen geschwärmt. Allzu bekannt ist Claude Monet noch nicht. Doch wenn du mich fragst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändert.“ Zuversichtlich zwinkerte er ihr zu.
„Manchmal kommt mir diese Fantasie – wie du sie nennst – eher wie ein Fluch vor“, erwiderte Arrow betrübt, ohne weiter auf die Schwärmereien des Gnoms einzugehen. „Es ist oft nicht kontrollierbar und dann tauchen plötzlich Bilder auf, die ich zuletzt vor vielen Jahren gesehen habe. Und ohne es zu wollen, entwickeln sie manchmal auch ein Eigenleben. Dann nehmen die Dinge einen Lauf, den es in der Realität so nicht gegeben hat. Zwar kann ich den Unterschied immer noch deutlich erkennen, doch ich weiß nicht im Geringsten, warum mein Kopf diese Dinge verfremdet.“
„Es ist nicht dein Kopf, Arrow, sondern deine Fantasie. Sie spricht zu dir. Und außerdem hilft sie dir beim Überleben.“
„Wie meinst du das?“
„Ich habe gesehen, an welchen Ort dich deine Reise führen soll. Es war nur ein schwaches Echo und trotzdem hallte es ununterbrochen in deinen Gedanken wider.“
„Du weißt, warum ich gekommen bin?“, entgegnete Arrow haltlos.
Shoes nickte. „Vor zwei Tagen habe ich es zum ersten Mal gehört.“
Aufgeregt erhob sie sich von ihrem Stuhl, doch ihr Gegenüber gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich beruhigen sollte. „Du bist noch nicht so weit. In deinem gegenwärtigen Zustand wirst du dein Ziel allerhöchstens auf dem dafür vorgesehenen, offiziellen Weg erreichen. Für die andere Route musst du deine Sinne schärfen und deine Fantasie trainieren. Sobald du auf der anderen Seite angelangt bist, wird sie pausenlos versuchen, dir Streiche zu spielen. Deshalb musst du sie kennen lernen, und vor allen Dingen musst du sie weiterentwickeln.“
„Soll das bedeuten, dass es tatsächlich einen anderen Weg in die Unterwelt gibt?“, fragte Arrow zitternd. Alles, was sie in den letzten Tagen gelernt hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Sie wirkte so unruhig, als trennte sie lediglich eine einzige schmale Tür von ihrem Ziel, und nun galt es den Schlüssel zu finden, der in dieses Schloss passte.
„Nach allem, was ich weiß, gibt es einen solchen Weg. Allerdings ist mir nicht bekannt, wie man danach wieder in diese Welt zurückkehren kann. Die Dämonen sind – was das angeht – erbarmungslos. Sie kennen keine Gnade, denn nicht einmal ihnen selbst ist es erlaubt, den Weg hinaus zu benutzen. Und gelingt es einem von ihnen doch, die Unterwelt zu verlassen, so ist höchste Vorsicht geboten. Denn eine solche Kreatur fürchtet weder einen Gott noch das Vergessen-Werden. Man würde ihn so lange jagen, bis nicht viel mehr als der schleimige Rest einer sich windenden Made von ihm übrig wäre. Und bis dahin bringt ein solch furchtloser Dämon unvorstellbares Leid über alles und jeden, der ihm in die Quere kommt.“
„OK“, sagte Arrow zaghaft. „Ich denke, ich habe verstanden, was du mir sagen willst. Du kannst also mit den Schauergeschichten aufhören.“
„Aber das ist keine Geschichte“, erwiderte Shoes gekränkt.
„Das mag ja sein. Bei deinen Worten habe ich mir trotzdem fast in die Hose gemacht, und wenn es schon so weit ist, will ich den Rest lieber gar nicht wissen. Aber um noch einmal auf das Thema zurückzukommen – kannst du mir trotzdem helfen?“
Traurigkeit schlich sich in Shoes Augen. „Du willst wirklich in diese Welt reisen? Ich kann dich nicht davon
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