Fruehstueck mit Proust
versuchte, ihre Motive zu erklären.
Anfangs versteckte sie sich nicht aus bösem Willen, sondern aus Scham. »Lesen war damals ein Synonym für Faulheit. Die Wohlhabenden lasen, sie wussten nichts mit ihren Händen anzufangen, was ja auch gar nicht nötig war! So redete man in meiner Familie oder in der meines Großvaters väterlicherseits. Lesen war untätigen und vermögenden Intellektuellen vorbehalten, die nicht schuften mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Die Bücher waren Mamoune eine Quelle der Freude und der Erkenntnis, doch was sie aus ihnen lernte, ließ sie davor zurückschrecken, darüber zu reden. Sie spürte, dass sie eine andere wurde, jene andere, die in diesem Augenblick mit Jade redete. Je tiefer sie in die Welt der Literatur eintauchte, desto stärker wurde das Gefühl, das Milieu zu verraten, dem sie angehörte. Mit den Büchern begab sie sich auf Reisen, genoss sie Unabhängigkeit, verschaffte sie sich Zugang zur verbotenen Welt der Gelehrsamkeit. Da sie nun in der Lage war, andere Menschenund ihr Tun mit Worten zu beschreiben, entdeckte sie das Leben, nahm sie die ihr vorher verborgenen alltäglichen Tragödien im menschlichen Dasein wahr. Und irgendwie fühlte sie sich in Gefahr, als hätte sie ein Geheimnis durchschaut. Fast gegen ihren Willen beschloss sie darum, diese Freiheit, die ihr wie eine Gnade zuteilgeworden war, geheimzuhalten. Sie fühlte sich schuldig, denn sie glaubte sich bestimmt für ihre Rolle als Mutter, Gattin und als Frau, die das Brot, für das sie arbeitete, auch verdienen musste. »Aber das kannst du bestimmt nicht verstehen«, sagte sie zu Jade, »das sind Dinge aus einer alten, längst vergangenen Welt.«
Jade war fassungslos, begann aber zu verstehen. Es war die Welt der am schwersten zu bekämpfenden Zwänge, jener, die man in sich selbst ausmerzen musste: die fatalistische Ergebenheit in die Dummheit und das Elend, das man verdient zu haben glaubte.
Jade staunte über Mamounes abenteuerliche Vergangenheit. Sie konnte gar nicht den Blick abwenden von dem rundlichen Gesicht ihrer Großmutter, das, während sie über Bücher sprach, eine ganz andere Farbe annahm und einen Ausdruck, den sie noch nie an ihr gesehen hatte.
»Mit der Zeit wurde ich mutiger, ich las nicht mehr nur, wenn niemand dabei war, ich versteckte die Bücher hinter dem Ledereinband meiner Bibel. Und die Romane, die ich auf diese Art vor aller Augen verschlang, waren alles andere als katholisch!«, bemerkte sie spöttisch. Sogar ihre Sprache war nicht mehr die alte. Hörte sie da wirklich dieselbe Mamoune, die früher zu ihr sagte, am Samstag würden sie »zum Frisiersalon« gehen und da bekäme sie »Duftwasser« ins Haar? Dabei dachteJade, Mamoune sei der Mensch, den sie in ihrem Leben am gründlichsten beobachtet hätte. Sie glaubte, ihr sanftes Profil, die weiche Trägheit ihrer Wangen, ihre langsamen und bisweilen mechanischen Gesten in- und auswendig zu kennen. Ihr wurde klar, welcher Abgrund sie von dieser Frau trennte, und sie verstand nun auch, warum Mamoune sich mit diesem nicht selbst gewählten Leben abgefunden hatte, als hätte sie es immer in sich getragen, ohne es zu benennen oder auch nur wahrzunehmen.
Sie hatte nie gehört, dass Mamoune über Philosophie geredet oder das Leben auch nur irgendwie bewertet hätte. Sie erinnerte sich, wie sie den Großvater beim Frühstück über die neuesten Nachrichten aus der Zeitung ausfragte. Wie viele Tote sind es heute, fragte sie, was gibt es Neues in unserer armen Welt?
Während sie sich unterhielten, war der Tee längst kalt geworden. Der Tag hatte sich verabschiedet und müde Schatten auf Mamounes Gesicht gezeichnet. Sie sah sie mit einem matten Lächeln an. Sie hatte recht, Jade konnte diese längst vergangene Welt, von der sie ihr erzählte, nicht ganz begreifen, sosehr sie sich auch bemühte. Doch die Woge der Zärtlichkeit, die in ihr emporstieg, wenn sie ihrer Großmutter zuhörte, vertrieb alle Unsicherheiten, die sie in der ersten Woche ihres Zusammenlebens gehabt hatte. Wie hatte sie nur zweifeln können? Mamoune war so unbeschreiblich, so unvorhersehbar. Jade ahnte, dass sie sich bei ihr noch auf so manche Überraschung gefasst machen durfte. Sie setzte neues Teewasser auf, das letzte Tageslicht warf einen blassen Glanz auf den Küchentisch. Ihre Großmutter schwieg, und Jeanne war verschwunden, hattesich zurückverwandelt in die alte Mamoune aus der Kindheit eines kleinen Mädchens, die mit dem Gewürzkuchen und
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