Fruehstueck mit Proust
Gefälligkeit hatte sie eine Zeitlang ehrenamtlich als Bibliothekarin gearbeitet. Allerdings bezweifelte Jade, dass diese Erfahrung sie zu der richtigen Lektorin für ihr abgelehntes Manuskript machte.
Ihre Großmutter betrachtete sie leicht amüsiert, als würde sie ihre Gedanken lesen und wahnsinnig komisch finden.
»Wenn du uns einen Tee kochst, setze ich mich zu dir und erkläre dir, warum ich dir meine Hilfe anbiete.«
Als Jade Wasser aufsetzte, zitterte sie ein bisschen, als ahne sie, dass das, was Mamoune ihr enthüllen wollte, alles andere als banal wäre. Während sie wie gewohnt die Teekanne vorwärmte und Tee in den Filter rieseln ließ,erinnerte sie sich, dass sie es gewesen war, die Mamoune an dieses Getränk herangeführt hatte, als sie keinen Malzkaffee mehr trinken mochte. Mamoune nutzte die Gelegenheit und begann mit ihrer Geschichte. Sie erzählte fast flüsternd, als würden sie von jemandem belauscht, und neugierig schien sie auf Jades Reaktionen zu lauern.
»Ich habe immer viel gelesen, schon vor ganz langer Zeit. Ich bin eine begeisterte Leserin, ein richtiger Büchernarr, kann man sagen. Bücher waren meine heimliche Liebe, mit ihnen habe ich deinen Großvater betrogen, der unser ganzes gemeinsames Leben lang nichts davon wusste.«
Jade fand, dass Mamoune ihr diese Neuigkeit unterbreitete, als sei sie auf den Strich gegangen, sie machte aus dem Lesen etwas geradezu Lasterhaftes. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Zugleich verschämt und entzückt, schien ihre Großmutter auf einmal eine ganz andere zu sein, und viel jünger.
»Warum hast du nie etwas davon erzählt? Niemand hätte es anstößig gefunden, dass du gern liest.«
Mamoune schüttelte seufzend den Kopf, was bei ihr stets ein Zeichen dafür war, dass sie die Wendung, die das Gespräch nahm, zutiefst missbilligte.
»Versetz dich mal zurück in meine Zeit. Ich war eine kleine Arbeiterin in einem Industriegebiet, Tochter von Bergbauern und später die Frau eines Arbeiters. Ich hatte die Grundschule bis zum Ende besucht, was in dieser Gegend schon eine Seltenheit für ein Mädchen war. Ich hütete Kinder, allem Anschein nach gut, denn mir wurden andauernd neue gebracht. Das war keine große Kunst für mich, denn ich liebte sie. Und sie gaben mirdie Möglichkeit, heimlich zu lesen. Ich konnte den Babys Auszüge von Victor Hugo, Flaubert oder Joyce vorlesen.«
»Du hast Kinder gehütet und ihnen Joyce vorgelesen?«
Mamounes Enthüllung war ungeheuerlich. Das war ja Stoff für einen Roman! Aber Mamoune schien nicht zu scherzen.
»Ja, deine Brüder mussten während des Mittagsschlafs, wenn es niemand hören konnte, Passagen aus dem
Ulysses
über sich ergehen lassen. Da war diese Musik in der Sprache. Du musst wissen, dass ich mich damals darin übte, immer schwierigere Texte laut zu lesen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was in dir die Lust geweckt hat, so intensiv zu lesen. War es die Schule?«
»Nein, das kam erst viel später. Als kleines Mädchen las ich zwar auch gern, aber ich musste meinen Eltern auf dem Hof helfen, zumal meine Mutter immer von der einen oder anderen Frau gerufen wurde, um bei der Geburt zu helfen. Und bei uns zu Hause gab es keine Bücher. Eines Tages, ich erwartete mein viertes Kind, verließ die Frau des Notars, deren Kleine ich gehütet hatte, unser Dorf, um in die Stadt zu gehen. Gesegnet sei diese Frau, denn sie brachte mir einen Karton voller Bücher, den sie nicht mitnehmen konnte. Darunter waren die Comtesse de Ségur, Jack London, Victor Hugo, Colette, Jules Verne, Edmond Rostand und sogar Klassiker des Dramas wie Molière und Racine. Als Erstes wollte ich die Geschichten von Jules Verne wiederentdecken, die mein Großonkel uns vorgelesen hatte. Dann warf ich einen Blick in
Die Elenden
, dann in den Rest und gewöhnte mir an, jeden Tag ein paar Seiten zu lesen, jedenTag immer mehr. Was für eine wunderbare Offenbarung! Woche für Woche schlug ich mit klopfendem Herzen die Bücher auf. Und erst die Theaterstücke! Ich hatte nie eine Aufführung gesehen, aber ich darf sagen, dass ich fast alle Rollen auswendig wusste! Vor allem die von Alceste, diesem außergewöhnlichen Menschenfeind!«
Eine Sache verwunderte Jade. Sie konnte sich nicht erinnern, ihre Großmutter jemals mit einem Buch in der Hand gesehen zu haben. Mit der Bibel, ja, aber mit keinem anderen Buch. Und sie konnte immer noch nicht ihre Vorbehalte gegen Großvater verstehen. Mamoune nahm die Fragen auf ihrem Gesicht sofort wahr und
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