Fruehstueck mit Proust
den Tulpen, die sie an Feiertagen zusammen im Garten pflückten, um den Tisch damit zu schmücken.
»Wenn du im Sommer schöne Blumen haben willst, müssen wir langsam anfangen, etwas in deine Balkonkübel zu säen«, bemerkte ihre Großmutter mit einem Blick nach draußen. »Wenn du möchtest, kümmere ich mich darum. An dem Fenster dort haben wir ab zwei Uhr mittags Sonne, und es ist schön windgeschützt.«
Mamoune
I ch merke, dass ich sie verunsichert habe. Sie glaubte mich zu kennen. Bedeutet es das Ende eines Kleinmädchentraums, wenn man entdeckt, dass die eigene Großmutter nicht dem Bild entspricht, das man von ihr hatte? Ich möchte sie nicht enttäuschen. Ich glaube, sie hat meine Heimlichtuerei nicht verstanden. Es ist so schwer, einer 1977 geborenen jungen Frau die Regeln, Konventionen und Traditionen eines Menschen zu vermitteln, der schon am Anfang des Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hat. Ich weiß nicht, ob ich ihr auch nur einen Teil von dem weitergeben kann, was ich von meinen Vorfahren mitbekommen habe. Je jünger die Großeltern heute sind, desto weiter entfernt scheint mir meine Zeit. Meine Zukunft ist vollständig in der Vergangenheit versunken. Wenn ich ihr meine Geschichte erzähle, spüre ich, wie fern ich ihr doch bin. Wie sollte sie auch verstehen, dass Lesen zu meiner Zeit vor allem bedeutete, Licht zu verschwenden und die Zeit mit Nichtstun zu vergeuden?
Ich erschlich mir den Zugang zu Büchern wie eine Einbrecherin, ich hatte keine Ausbildung, die mich auf das Lesen und die Freude daran vorbereitet hätte. Ein Buch aufzuschlagen war das Schlimmste, was eine Frau aus meiner Schicht tun konnte. Ich betrat eine Welt, die mir versagt war. Mir war absolut bewusst, dass es nicht die meine war. Ich betrachtete sie ausgiebig, und dannschloss ich die Tür wieder. Doch es war mir unmöglich zu vergessen, was ich gesehen hatte: einen unendlich weiten Raum, auf den ich nicht mehr verzichten konnte. Warum versuchte ich nicht, in diesem anderen Universum zu leben, zu studieren, in die Stadt zu gehen? Warum pendelte ich mein Leben lang zwischen dem Milieu, in dem ich geboren war, und dem, das ich mir ersehnte, aber nie als das meine empfand? Ich achtete peinlich genau darauf, die Tür immer gut hinter mir zu schließen, meine beiden Leben nie zu vermischen: das der kleinen Bergbäuerin und das der Romanleserin.
Wenn ich in dem einen Dasein lebte, zog ich Kraft aus der Vorstellung, dass auch das andere existierte, und wenn ich das zweite betrat, dachte ich nicht mehr daran, dass es ein anderes geben könnte. Was anfangs große Unsicherheit war, verwandelte sich in einen Lebensstil.
Und dann fand ich heraus, dass die durch ihr Wissen so mächtige Welt der Bücher meine Welt, die Welt der am Kamin immer wieder aufs Neue erzählten Märchen, zuweilen verdrängt hatte. Von Leuten aus meiner Gegend aufgeschriebene Geschichten verflüchtigten sich in der Natur, aus der sie stammten. Die Schriftsteller vergaßen ihre bescheidenen Wurzeln.
Ich bin eine Frau zwischen zwei Kulturen. Ich weiß die Namen aller Pflanzen, und meine Mutter hat mir ihre heilende Wirkung erklärt. Ich habe mehr Geschichten im Kopf als mein Sohn in seiner ganzen Bibliothek. Er weiß nichts mehr: er besitzt Bücher. Bevor der Wetterbericht seine falsche Prognose für den nächsten Tag abgibt, hat mir der Himmel längst zugeflüstert, was kein Satellitenbild verrät. Das habe ich von meinem Großvater gelernt, der Schäfer war. Er konnte nicht lesen und sagte immer,der Tod lache über Bücher und Wissen. Für das Jenseits gibt es keine Gebrauchsanweisung oder Anleitung, die man in der Buchhandlung kaufen oder von irgendwem erlernen könnte. Vielleicht einen Schimmer von Unendlichkeit. In der Natur wird alles, was vergeht, irgendwann wiedergeboren. Aber ist das eine gute Aussicht?
Unter den Großeltern der Kinder, die ich hütete, begegnete mir manchmal ein Leser, der seiner Welt zugehörig war wie ich der meinen, ganz überzeugt von der Vorstellung, dass Arbeiter und Bauern die neuen Nachrichten in der Zeitung lasen, aber nicht mehr die alten in den Büchern von einst. Da die Menschen aus der Stadt die Weisheit des gesunden Menschenverstands und der Natur nicht kannten, hatten sie auch nicht das Gefühl, etwas verloren zu haben. Sie wussten nicht einmal, dass sie diesen Schatz je besessen haben könnten. Wenn mein Großvater mir die Berge, die Morgenröte, die Bäume zeigte, sagte er: Sieh dir diese Kostbarkeiten an
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