Fruehstueck mit Proust
gar nicht in Sicht war.
»Angenehm, Rajiv, ich bin Jade. Ich steige an der nächsten aus.«
»Bis bald, Jade.« Er betonte ihren Namen mit sichtlichem Wohlgefallen. »Vertrauen wir dem Zufall«, fügte er leiser hinzu und schenkte ihr noch einmal dieses ebenso strahlende wie unwiderstehliche Lächeln. Wenn Jade ehrlich war, hatte sie noch nie ein so eindrucksvolles Lächeln gesehen. Es teilte sein Gesicht genau in zwei Hälften und war so spontan, dass man sich ihm nicht entziehen konnte. Sie hatte das Gefühl, es habe sich gleich auf ihr Herz gelegt. Die Tür vor Jade würde sich erst an der nächsten Metrostation öffnen, die überhaupt nicht kommen wollte. Jade schämte sich, so zu fliehen, die komplizenhaften Blicke ihrer Exsitznachbarn warenihr peinlich, und sie ärgerte sich, dass Rajiv sie weiter mit ruhigem Wohlwollen anlächelte. Am meisten aber wurmte sie, wie entzückt sie darüber war! Zum Glück hatte er sie nicht vor allen Leuten nach ihrer Telefonnummer gefragt. Und auch als sie schon entschlossenen Schritts auf das Redaktionsgebäude zumarschierte, rumorte die Wut noch in ihr, deren Grund sie allerdings nicht benennen konnte. Was war denn eigentlich los? Ein Typ mit einem schönen Lächeln hatte ihr in der Metro freundlich guten Tag und seinen Namen gesagt, und sie befand sich in solch einem Aufruhr! Was bin ich bloß für eine Frau geworden?, fragte sie sich. Scheu und verhuscht? Hilflos? Sie hatte es doch immer gemocht, zu reisen und neue Leute kennenzulernen. War das nicht auch der Grund gewesen, weshalb sie diesen Beruf gewählt hatte? Auf einer Reise nach Mauritius war sie schon allein von den ewig lachenden Indern bezaubert gewesen, ihrem Blick voller Licht, mit dem sie ihre Seele vor sich herzutragen schienen. Aber darum ging es nicht, das spürte sie deutlich. Das hier war etwas völlig anderes. Sie hatte noch den Klang seiner tiefen Stimme im Ohr, seltsam magnetisch und verwirrend. Sie überlegte, ob sie sich am nächsten Tag zu einer anderen Uhrzeit auf den Weg machen sollte, um ihm nicht wieder zu begegnen. Sie grübelte schon über den Zeitpunkt und die Haltestelle nach, was ihren Groll nicht minderte. Wann hatte der Mann sie angesprochen? Bei ihrer Ankunft in der Redaktion warf sie lässig in den Raum hinein, sie habe in der Bahn einen Schweden kennengelernt, also eigentlich Inder … Aber als sie sah, wie die Mädels darauf reagierten, wurde ihr auf einmal klar, warum sie so außer sich war. Das war’s, was sie so störte. Frauen über dreißighatten keine unschuldigen Begegnungen mehr, jede Bekanntschaft wurde gleich auf eine potentielle Perspektive hin abgeklopft. Für eine alleinstehende Frau von dreißig plus war jeder nette Typ, dem sie auf der Straße oder sonst wo über den Weg lief, möglicherweise
die
Begegnung »mit Zukunft«, wie Mamounes Nachbarinnen gesagt hätten. Einst unbeschwerte junge Frauen ohne Hintergedanken standen nun permanent unter Erfolgszwang, und im Vorzimmer der künftigen Zweisamkeit verloren sie ihr Hirn und ihren Sinn für Humor, nicht aber ihre Sprache! Weshalb Jade wohl auch so hartnäckig an dem Gespenst einer Beziehung festgehalten hatte, die sie eigentlich nicht mehr wollte, um dem zu entkommen, was sie hier sah: junge Frauen, die ganz aus dem Häuschen gerieten, nur weil man in der Metro einem sympathischen Typen begegnet war. War man liiert, blieb man vor diesem Single-Geschwätz im Büro verschont und konnte ungestört begegnen, wem man wollte!
Sie war noch ganz in Gedanken, als ihr eine junge Kollegin über den Weg lief und ihr von einem Artikel erzählte, den sie gerade vorbereite. Vor lauter Begeisterung darüber, dass sie zur Polygamie in Frankreich recherchierte, bemerkte sie gar nicht, dass Jade, überwältigt von einem erneuten Wutanfall, die Stirn kraus zog. Die hübsche Brünette, die frisch von der Journalistenschule kam, beschrieb Jade genau das Projekt, das sie selbst vor ein paar Wochen vorgeschlagen hatte! Sinnlos, zur Chefredakteurin zu rennen. Die hätte nur wieder das beschwichtigende kleine Lachen für sie gehabt, das sie immer zum Besten gab, wenn sie jemanden in die Pfanne gehauen hatte und anschließend mit trockener Geste hinausbeförderte. Jade musste feststellen, dass die Zeitenwohl vorbei waren, in denen man eine der langjährigsten Mitarbeiterinnen der Zeitschrift nicht hintergangen hätte, indem man ihr das Thema klaute und einer anderen gab. Und mit geheuchelter Miene würde man ihr zum Ausgleich eine tolle andere
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