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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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Spiegel, den die Literatur mir bot, von nun an nicht mehr verzichten konnte. Die Schule von Jules Ferry lehrte mich das Lesen, die Schule des Lesens würde mich das Leben lehren.
     
    Ich fühle mich gar nicht müde … Ich leide nicht mehr unter dieser Erschöpfung, die mich immer kurz vor Jeans Todestag überkam, als ich noch allein in meinem Haus lebte. Ich passe gut auf mich auf, wenn Jade nicht da ist. Ich zwinge mich, Pausen einzulegen, draußen nicht zu weit zu laufen. Ich versuche Situationen zu vermeiden, aus denen ich nicht aus eigener Kraft wieder herausfinde. Ich dusche oder bade nur, wenn Jade in der Nähe ist, und wie es scheint, ist das auch gut so. Als ich heute Abend in der Badewanne saß, wollten meine Beine sich auf einmal nicht mehr rühren. Da ich die Tür nie verschließe, habe ich gleich gerufen, mein Herz schlug so heftig und schnell, als wollte es mir in der Brust zerspringen. Jade kam herein und half mir aus der Wanne, stützte, wiegte, tröstete mich. Ich entschuldigte mich, weinte Tränen der Ohnmacht und der Scham darüber, dass ich ihr mein altes Gerippe zumutete. Mamoune, meine liebste Mamoune, flüsterte sie, lass mich dir helfen. Ich wollte für dich sorgen, dir ein wenig von der Aufmerksamkeit schenken, die du verdienst, damit du nicht bei Fremden landest. Du hast mir so viel Zärtlichkeit geschenkt, als ich klein war, und tust es noch heute. Liebe Mamoune, wovor hast du Angst? Was wirfst du dir vor? Es stört mich nicht, dass du alt bist. Du hast kein Alter, du duftest nach Milch, nach Veilchen, nach Vanille. Lass mich dir die Haare machen. Sie hat mich angezogenund gekämmt, als wäre ich ein Kind, eine Puppe. Ich wusste nicht, was ich von so viel Mitgefühl halten sollte. Es war Trost und Kummer zugleich, es war der Beweis, dass ich nicht mehr allein leben kann.
    Ich bin verloren. Von nun an brauche ich Kontrolle. Aber ich habe mehr Angst davor, ihr zur Last zu fallen, als zu sterben. Ich fürchte, Jade hat noch nicht begriffen, was für eine Torheit es war, mich zu sich zu holen, und es ist meine Pflicht, sie zu entlasten, ihr mitzuteilen, dass ich mich aus freien Stücken entschieden habe, in dieses Heim zu gehen. Sie hat einen Arzt herbemüht, der nichts Auffälliges an mir entdecken konnte. Erschöpfung, niedriger Blutdruck. Nichts Beängstigendes in Ihrem Alter, hat er präzisiert. Ich weiß, beängstigend ist nur das Alter. Nun bin ich also behindert, obwohl bei klarem Verstand. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich mich in den Rollstuhl setze und warte, bis mich jemand schiebt. Ich möchte Jade bei ihrem Roman helfen. Meine Augen funktionieren ja Gott sei Dank noch. Ich habe es ihr heute Abend noch einmal versprochen, nachdem der Arzt gegangen war. Sobald sie ihren Roman überarbeitet hat, gibt sie mir Umschläge und die Adressen. Ich kümmere mich um den Versand. Ich werde das Manuskript Korrektur lesen und zur Post bringen. Das verlangt nicht die geringste Anstrengung von mir … Oh, ich weiß nicht genau, was für ein Spiel ich hier spiele, aber ich glaube, ich versuche es noch ein bisschen hinauszuzögern, dass ich völlig überflüssig bin. Ich war immer so ruhig, so unbeschwert, so im Einklang mit dem Leben, auch wenn ich manchmal nicht sicher war, ob es auch wirklich mein Leben war. Nun bin ich alt und flehe umGnade. Ich bitte den Himmel um diese paar Wochen oder Monate. Stunden, in denen ich die Minuten zählen kann. Zeit für die Zeit, die man in einem einfachen Moment des Glücks verrinnen sieht. Die Gegenwart wird mir kostbar sein, denn jeder Sprung in die Zukunft würde mich nur in den Abgrund stürzen, der mich erwartet. Und dieses Gefühl hat nichts Unbeschwertes mehr für mich. In meiner Jugend dachte ich, alte Menschen würden resignieren, ich hielt sie für weise, jederzeit bereit, in Stille zu sterben. Wie darauf vorbereitet. Vielleicht waren sie es sogar. Im Gegensatz zu mir, die alle für ruhig und besonnen hielten, »schon so reif für ihr Alter«, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Wenn sie mich heute sehen könnte! Ein armes, panisch umherflatterndes Vögelchen, das sich an seinen verlorenen Jahren stößt wie an den Mauern des Schicksals.

 
    J ades Nachbarin, eine Spanierin aus Granada, wusste, dass ihre Großmutter bei ihr wohnte. Sie hatte das Auto des Arztes gesehen und brachte ihnen heiße
churros
. Dann blieb sie noch eine Weile und gab ihnen ein paar Ratschläge, wie man die Trinkschokolade so

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