Fruehstueck mit Proust
fertig gelesen?« Jade war überrascht und plötzlich etwas eingeschüchtert. Mamoune lächelte.
»Ich habe ihn fertig gelesen, aber du hast ihn noch nicht fertig geschrieben, wenn er das werden soll, was dir vorschwebt.«
Die Szene hatte sich am Abend zuvor ereignet, und Jade hatte das Bedürfnis, Rajiv zu beschreiben, mit welch ruhiger Stimme und fast feierlicher Diskretion Mamoune ihr gesagt hatte, dass der Roman es durchaus verdiene, überarbeitet und verbessert zu werden. Es verwirrte Jade geradezu, wie gewissenhaft und präzise Mamoune ihn analysierte und ihr sagte, was ihr an ihrem Stil aufgefallen war: ihre Verschwendungssucht, ihreNeigung, alles zu sagen und wahllos aufs Papier zu werfen. All das, die Wasserfälle, Sturzbäche und Dammbrüche, hatte Mamoune wahrgenommen, aber auch die stillen Seen, in denen, wie sie meinte, etwas erst im Entstehen war. Fast nebenbei ließ Mamoune eine seltsame Bemerkung fallen, die Jade sehr verwirrte.
Pass auf, dass die Schriftstellerin in dir nicht von der Journalistin verschlungen wird.
Das Letzte hatte Jade Rajiv nicht gesagt, und sie suchte im Grunde auch nicht seinen Rat. Sie genoss es vor allem, mit ihm zu reden und zu spüren, dass diese Begegnung anders war als alles, was ihr zuvor widerfahren war. Sie hatte wieder Lust, einen anderen Menschen zu entdecken, sich jemandem zu öffnen. Mit Erstaunen bemerkte sie, dass dieses Bedürfnis ihr vor langer Zeit abhandengekommen war, ohne dass es ihr bewusst war. Sie befragte ihn zu seiner Kindheit in London, zu seiner Entdeckungsreise nach Indien im Alter von siebzehn Jahren, und sie beobachtete die Bewegung seiner Hände im Raum, seine Gesichtszüge, den Glanz in seinem Blick. Auf seltsame Weise verwoben sich in ihr die Düfte des Essens, die Rauheit seiner Stimme, die Gewürze, die sie schmeckte, zu einer einzigen Empfindung, und das Verlangen erwachte in ihrem Körper, der im Reigen dieser angenehmen Sinneseindrücke zu tanzen schien.
Rajiv erzählte ihr von seiner Rückkehr nach Europa, tief aufgewühlt von der Begegnung mit seinen Ursprüngen; und er erzählte von seinem Studium in London und später in Paris. Er war nicht so jung, wie er aussah.
»Für die Inder bin ich ein alter Junggeselle, der längst verheiratet sein sollte. Ich bin fast dreißig. Und bei dir wäre es noch schlimmer, da unten würden sie denken,deine Eltern hätten kein Geld, um dich zu verheiraten, oder dich wollte keiner! In Indien ist es eine Beleidigung, jemandem viele Töchter zu wünschen und ihnen allen eine schöne Hochzeit!«
Während ihrer Unterhaltung mit Rajiv wurde Jade bewusst, dass sie schon seit der Zeit mit Julien mit niemandem mehr so offen ihre Gedanken ausgetauscht hatte. Und Rajiv zeigte seine Neugier unverhohlen. Er fand alles spannend, und so manche Frage, die man jedem anderen als Indiskretion vorgeworfen hätte, wirkte durch seine Unschuld als ganz natürliches Interesse. Er fragte sie, ob ihre Großmutter aus Liebe geheiratet hätte und wie sie mit dem Verlust ihres Mannes zurechtkäme … Fragen, die Jade sich selbst nie gestellt hatte! Er sagte auch, mit ihrer Geschichte einer heimlichen Leserin sei Mamoune eine Inderin, es heiße ja ohnehin, in einem anderen Leben sei jeder Mensch einmal Inder gewesen. Wie gern hörte Jade ihm zu, in ihrem Umfeld drückte sich niemand so aus wie er. Und während er mit ihr sprach, streifte er hin und wieder leicht ihre Hand, ihren Arm oder ihre Wange, scheinbar unbewusst, eine arglose Zärtlichkeit. Der Kontakt mit seiner dunklen Haut ließ sie erbeben. Sie fühlte sich immer nackter unter seinem Blick. Zwei Abende zuvor hatte sie sich noch gefragt, wozu das Leben eigentlich gut sei. Alles war ihr so sinnlos erschienen. Kinder zu bekommen, ein Paar zu sein, einen Geliebten zu haben … Um eines Tages alt, allein und krank zu sein, lohnte es sich jedenfalls nicht, so weiterzumachen. Sie hatte gedacht, dass sie ihr Leben allein und auf Reisen verbringen und dass sie keine Verpflichtungen eingehen werde. Und nun sonnte sie sich in der Überzeugung ihrer Großmutter, dass sie eineSchriftstellerin sei, und fühlte sich schön in den nachtschwarzen Augen dieses leidenschaftlichen Mannes. Plötzlich war sie eine Frau mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht und einer unbändigen Lebensgier.
Kaum war sie nach dem Essen mit Rajiv auf dem Heimweg, kehrten die Personen ihres Romans in ihr Denken zurück. Welches war ihre jeweilige Rolle in der Geschichte, welche sollte sie streichen oder
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