Fruehstueck mit Proust
das es dem Leser erlaubt, die Geheimnisse einer Romanfigur frei zu interpretieren – die ja auch ein bisschen unsere Geheimnisse sind.«
Mamoune widmete sich mit sichtlichem Genuss dem Verzehr eines
churro
. Und diesmal erkannte Jade in ihr das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen sein musste – und sie wusste auch, dass sie selbst, seitdem Mamoune bei ihr lebte, manches von ihr übernommen hatte. Es war sehr aufschlussreich, sich die Leute in einem anderen Alter vorzustellen als in dem ihnen ein für alle Mal zugeteilten. Warum beurteilen wir Menschen, die wir gut kennen, auch wenn wir vieles nicht über sie wissen, nicht neu, anstatt ihnen ewig das alte Etikett aufzukleben?, bekam sie immer wieder von der Großmutter zu hören. Anfangs dachte Jade, das sei nur ihre Art, sich dafür zu entschuldigen, dass sie im Grunde eine andere gewesen war, dass sie sie ein bisschen angeschwindelt hatte. Bis sie verstand, dass es einfach Mamounes Lebensart und Offenheit war.
»Und die anderen Figuren, hast du dir die ausgedacht, oder sind das auch Paare aus deinem Umfeld, wie Jean und Jeanne?«
»Manche sind eine Mischung und andere völlig frei erfunden. Ich hatte keine bestimmte Methode. Ich wollte, dass es unterschiedliche Paare wären, sowohl vom Alter her als auch in ihrem Charakter, es sollten Eheleute, Liebende, Freunde, Geschwister, verfeindete Nachbarn darunter sein. Aber einige sind sich im Prozess des Schreibens zu ähnlich geworden, durch deine Kommentare wird mir klar, dass ich die Unterschiede nicht deutlich genug herausgearbeitet habe.«
Mamoune blieb eine Weile stumm, vertieft in Gedanken irgendwo zwischen ihrer Lektüre des Romans und ihren Anmerkungen dazu. Dann plötzlich brach sie ihr Schweigen, und man sah ihr die Frage schon an:
»Was passiert, wenn du deinen Roman noch einmal liest? Entdeckst du ihn dann völlig neu, oder überfliegst du nur einen Text, den du auch auswendig zitieren könntest, wenn man ihn dir wegnähme?«
»Ich glaube, ich entdecke ihn neu, aber ich wäre auch in der Lage, ihn zu zitieren, wenn man ihn mir wegnehmen würde.«
»Was von Herzen kommt, darüber kann man schwer urteilen«, bemerkte Mamoune. »Du solltest einmal versuchen, ihn ganz langsam zu lesen, und probeweise einzelne Passagen streichen. Das sage ich jetzt einfach so, obwohl ich es sehr schwierig finde, dir zu sagen, tu dies oder das! Ich lese, ich schreibe nicht.«
»Ja eben, und was du mir sagst, ist eine große Hilfe für mich. Hast du Angst, mir etwas Falsches zu raten?«
»Ein wenig schon. Trotzdem glaube ich, dass du zu geschwätzig bist. Überlass es doch uns Lesern, deine Figuren zu entdecken. Bring uns nicht durcheinander. Dann wirst du vielleicht feststellen, dass sich ein Schmuckstück in diesem Text verbirgt, den du für deinen Roman hältst und der nur die Hülle ist.«
»Mamoune, was du da sagst, ist kaum zu glauben. Wenn sich in dieser ersten Version, die ich an ein Dutzend Verleger geschickt habe, ein echter Roman verbirgt, was soll ich dann von all diesen Verlegern halten, die mir weder Änderungen vorgeschlagen noch sonst einen Rat gegeben haben? Du bist ein echter Profi!«
Mamoune lachte.
»Das sollte dich eigentlich beunruhigen! Weißt du, meine Mutter sagte immer, man kann nicht gleichzeitig Tomaten verkaufen und sie züchten. Ich weiß nicht, wer bei denen liest und wer die Entscheidungen trifft. Die meisten der Antwortschreiben waren anonym, wie ich gesehen habe. Unter den Dutzend Briefen, die du mir gezeigt hast, finden sich nur zwei mit Namen, und zufällig geben diese beiden ganz gute Ratschläge. Es sei denn, ich liege völlig falsch und dein Roman gehört in den Müll.«
Mamoune sah sie augenzwinkernd an. Jade runzelte die Stirn.
»Ich will lieber glauben, dass du recht hast, und mache mich gleich daran, den Text zu kürzen. Schließlich komme ich aus einer Welt, in der jeder Artikel amputiert wird, damit genug Platz für die Werbung ist. Diesmal wird es mich nicht so sehr schmerzen, wenn es denn dem Werk dient.«
»Die Szenen über das exotische Leben sind sehr gelungen. Ich habe keine Ahnung von den Inseln, die du da beschreibst, aber ich habe diese Passagen sehr gemocht. Die Farben, die Gerüche, das Alltagsleben.«
Für einen Moment tauchte Rajivs Gesicht vor Jades Augen auf. Ihr gemeinsames Essen, die schöne Tönung seiner Haut, überstrahlt von diesem unwiderstehlichen Lächeln, das jedes seiner Worte begleitete. Ihr war, als habe Mamoune ihre Gedanken
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