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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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und dem Monat meiner Geburt stammte. An jenem Tag vertraute mein Bruder mir an, dass er Pilot werden wolle.«
    Mamounes Bruder, sieben Jahre älter als sie, starb während des Krieges am Steuerruder seines Flugzeugs. Sie hatte ihn Jade immer als Helden beschrieben, ihren persönlichen Helden seit der Kindheit. Groß, braunhaarig, der schönste junge Mann im Dorf, sagte sie immer. Dass er auch noch Pilot wurde, machte ihn für die kleine Jeanne noch faszinierender. An dem Tag im März 1944, als sie erfuhr, dass sein Flugzeug bei dem Versuch, Fallschirmjäger abzusetzen, abgeschossen worden war, kam Mamoune gerade vom Plateau des Glières herunter, wo sie mit Erfolg einige Botschaften weitergegeben hatte. Sie wäre am liebsten auf der Stelle dorthin zurückgekehrt, um zu sterben, so unerträglich war ihr der Tod des geliebten Bruders. Ihre kluge Mutter fasste sie beim Kragen ihrer Jacke und kommandierte sie kurzerhand ab, ihr bei einer Geburt zur Hand zu gehen. Mit Tränen in den Augen drückte sie ihr das Neugeborene in den Arm und sagte: »Der Tod gehört auch zum Leben. Der Krieg hat dir den Bruder genommen, der mein einziger Sohn war. Das Leben ist eine Hure, die man mit aller Kraft lieben muss. Lebe, meine Tochter, ergreif das Glück in jedem Augenblick und weine um die Toten, aber geh ihnen nicht nach, wenn deine Zeit noch nicht gekommen ist, so viel Selbstachtung bist du dir schuldig.«
    Diese Lektion musste Mamoune einst sehr geprägt haben, aber sie hatte Jade noch nie davon erzählt bis zu diesem Tag, als sie sinnend vor dem Computer saß und ins Leere starrte. Ein Staubkorn hatte ausgereicht, die Vergangenheit heraufzubeschwören, und kaum war die Erinnerung zu neuem Leben erwacht, kehrte Mamoune in die Gegenwart zurück.

Mamoune
    I ch gebe ja zu, manchmal schnappe ich schnell ein. Wie gestern, als Jade sagte: »Mamoune, wegen deiner Zähne …« – »Was ist mit meinen Zähnen? … Wunderst du dich, dass du sie nicht in einem Glas auf dem Waschbecken herumschwimmen siehst?«, fragte ich, »ich habe alle meine Zähne noch …« Zum Glück ist Jade nicht nachtragend. Sie räusperte sich. »Ich wollte dir nur sagen, dass mein Zahnarzt hier im Haus wohnt und sehr sanft ist, falls du mal einen brauchen solltest, aber da dir dieses Thema scheinbar sehr unangenehm ist, werde ich es von nun an meiden!« Ich fühlte mich furchtbar blöd. Es ist schon komisch. Früher war ich nicht so leicht reizbar … Was hat das Alter nur mit meiner Gelassenheit gemacht!
    Und doch habe ich mich, seit Jean von mir gegangen ist, noch nie so gut gefühlt. War es ein Fehler, dass ich nach seinem Tod weiter das Haus bewohnte, in dem wir gemeinsam unser Leben verbracht hatten? Oder ist einfach nur der Ortswechsel wohltuend? Ich habe aufgehört, mich mit meinen Fragen einsam im Kreis zu drehen. Mich mit Jades Roman zu beschäftigen gibt mir das tröstliche Gefühl, nützlich zu sein. Ich würde es nie zu sagen wagen, aber mir ist, als hätte ich ein neues Leben begonnen, seit ich bei meiner Enkelin lebe. Endlich kann ich an die Vergangenheit denken, ohne dass es mir das Herz zerreißt. Die Gespräche mit Jade und das Rauschen der Welt draußen, das sie mit nach Hause bringt,zwingen mich, nicht mehr in jener langsamen Zeit dahinzudämmern, die längst nicht mehr verging und mich dennoch in ihren Fängen davontrug.
     
    Wenn ich auf meinen Spaziergängen die Straßen der Stadt erkunde und mich ganz ihrem Treiben überlasse, verschwindet das Gefühl, schon mit einem Bein im Sarg zu stehen. Ich bin wahrlich kein Stadtmensch, und ich dachte, ich wäre verloren ohne den Garten, die Berge und die Freiheit, die die Natur mir gab! Ich bin selbst überrascht, dass ich alles an meinem neuen Leben mag. Sogar die Anonymität ist mir angenehm, die sich auf die Einwohner dieser Stadt legt. Ich bin nicht mehr die arme Witwe Jeanne, die sich auf dem Weg durch ihr Dorf vorstellt, was hinter ihrem Rücken alles geflüstert wird, etwa dass sie sich nur noch durch die Gegend schleppt oder dass sie mit Jean auch ihren Sinn für Humor verloren hat. Dieselben Leute hätten sich das Maul zerrissen, wenn sie gelacht hätte oder zu schwungvoll dahergelaufen käme, denn dann wäre ich für ihren Geschmack wieder zu fröhlich gewesen. Sind wir nicht das, was andere von uns denken?
    In diesem jungen Viertel gleiten die Blicke von mir ab, ohne mich wahrzunehmen. Ich werde nicht müde, den Gesprächen dieser Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu lauschen. Sie

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