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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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haben, denn eine Woche lang war er sogar Kulturminister. Nur so lange dauerte es, bis ihm klar wurde, dass seine Reformen nichts bewirken würden und dass er mit solchen Kompromissen nicht leben konnte. Weiteren Einträgen, die ich aufstöbere, kann ich entnehmen, dass auch sein Umfeld diese Zeit brauchte, um zu bemerken, wie schwierig es ist, jemanden an seiner Seite zu haben, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Er war auch der Erste, der Bücher, die eingestampft werden sollten, abzweigte, um Bibliotheken für Obdachlose zu schaffen. Das also finde ich im Internet über diesen ungewöhnlichen und hingebungsvollen Mann. Als ich in einem Artikel auf ein Foto von ihm stoße, entfährt mir ein Ausruf der Überraschung. Wie er meinem alten Freund Henri ähnelt! Auf den zweiten Blick sieht erdann doch ganz anders aus, aber seine Gesichtszüge und dieser weiße Haarschopf haben mich im ersten Moment verblüfft. Er hat große Augen, die die Welt zu verschlingen scheinen. Diese Welt, die inzwischen auch der Maus erreichbar geworden ist, die ich bin, und jener, die ich mit der rechten Hand bediene, seit ich es endlich kapiert habe.
    Welch angenehme Überraschung, dass die heutige Zeit, die für mich als alte Frau so ungeeignet erscheint, auch ihre positiven Seiten hat. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, wird alles zu einer körperlichen Strapaze. Ich habe sehr spät gelernt, dass es überhaupt keinen besonderen Mut braucht, um jung zu sein. Elan, Bewegung, Schnelligkeit, das alles wird einem auf natürliche Weise und ohne Schmerzen geschenkt. Dieses Gerät aber, wie ich den Computer nenne, entspricht meiner Trägheit und erspart es mir, mich unter Mühen vorwärtszubewegen, mit irgendeinem schmerzenden Gelenk, von dessen Existenz ich gestern noch gar nichts wusste. Natürlich mache ich mir Sorgen über meine schlechte Haltung auf diesem Stuhl, aber im Moment habe ich einfach nur Freude an dieser täglichen Übung, die mein Gedächtnis auf Trab hält. Und nach diesem geistigen Marathon bin ich so erschöpft, dass ich gleich nach dem Abendessen in Morpheus’ Arme sinke. Nach einem Schlaf voller nicht immer angenehmer Träume, in denen ich von den Strudeln meiner Recherchen mitgerissen werde, tauche ich am frühen Morgen ohne großen Muskelkater wieder auf.
     
    Der Reflex, dann als Erstes die Fensterläden aufzustoßen, um mir den Garten anzusehen, den ich vor fast drei Monaten verlassen habe, ist nun verschwunden. Mir ist,als wäre ich vor über zehn Jahren aus meinem Haus weggezogen und hätte ein paar Jahre dort vergessen. Den Spiegel meide ich, ich will ihm keine Gelegenheit geben, was ich tief im Innern fühle, Lügen zu strafen. Das muss man lernen, wenn man alt wird. Alles hat einen Sinn … aber ohne Spiegel. Meine Nachbarin pflegte immer zu sagen, und ich glaube nicht, dass sie die Tragweite ihrer Worte ermaß: »Ab einem gewissen Alter musste ich feststellen, dass mein Spiegel zu viel abbildete.«
     
    Es war das erste Mal, dass Jade Rajiv in traditioneller Kleidung sah. Er hatte unangemeldet bei ihr geklingelt, um zu fragen, ob sie ihn zu einer indischen Feierlichkeit begleiten wolle. Nichts am Verhalten dieses Mannes ähnelte dem, was sie von anderen kannte. Als sie ihn so ganz in Weiß sah, kam er ihr richtig fremd vor. Er wirkte nicht besonders selbstsicher. Aber Jade dachte nicht über seine Verlegenheit nach, als er in der Tür stand und auf ihre Antwort wartete. Sie fragte sich, welchen Platz sie wohl in seinem Leben einnahm. Er war nach außen so ausgeglichen und innerlich so glühend. Er schien sie mehr zu hofieren als anzubaggern, wobei in seinem Fall schon dieses Wort höchst unpassend war. Ein bloßes Streicheln über Jades Arm wurde unter seinen Fingern zum Vorboten eines Orgasmus, und seine Stimme ließ sie schwach werden und an etwas ganz anderes denken als das, was er gerade sagte. In seiner Gegenwart war sie die ruhige, verständnisvolle Freundin, dabei wusste sie selbst nicht einmal, wie sie sich wirklich geben sollte. Als würde Rajivs Fremdartigkeit auf sie abfärben.
    »Ich dachte, es könnte dich vielleicht interessieren, mal an einer
puja
teilzunehmen. Es ist gleich eine Straßeweiter, in einem Tempel, wo die Hindus mehrmals am Tag das Göttliche verehren.«
    »Warum nicht?« (Mit ihm würde sie überallhin gehen.) »Gib mir zwei Minuten, um mich umzuziehen.«
    Jade schrieb Mamoune kurz auf, wo sie war, während ihr Herz Sprünge machte, als wolle es ihr aus der Brust hüpfen. Dann

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