Fruehstueck mit Proust
rannte sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Es war das erste Mal, dass Rajiv zu ihr kam. Und könnte Mamoune nicht jeden Augenblick von ihrem Spaziergang zurückkehren, würden sie dann überhaupt zu dieser Zeremonie gehen? Daran durfte sie gar nicht denken.
»Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Nähe einen Tempel gibt«, sagte sie und kam auf Rajiv zugetanzt. Sie legte den Zettel für Mamoune gut sichtbar auf den Tisch und atmete noch einmal ihren Veilchenduft, bevor sie mit ihm die Wohnung verließ.
»Von außen sieht man auch nichts, aber wenn du erst mal durch die Eingangstür dieses ganz gewöhnlichen Pariser Wohnhauses getreten bist, meinst du, du wärst in einem Bollywoodfilm gelandet.«
»Ja, von außen sieht man nichts …«, murmelte Jade.
»Muss ich während der Zeremonie irgendwas sagen oder tun? Und bist du sicher, dass es kein Problem ist, wenn ich dabei bin?«
»Keine Angst. Ich werde dir übersetzen, was gerade passiert. Falls ich es verstehe«, fügte er lachend hinzu.
»Ich dachte, du kannst Hindi?«, wunderte sie sich und passte ihren Gang dem seinen an.
»Schon, aber es hängt vom Priester ab. Bei den sechstausend Sprachen, die es in Indien gibt, stoße auch ich manchmal auf eine, die ich nicht so gut kann …«
In seiner Art zu spaßen war immer ein ernster Unterton,der Jade unschlüssig machte. Nur seine Augen verrieten den Scherz.
»Weißt du, ich bin ja selbst nicht besonders religiös. Ich nehme an ein paar Ritualen teil, wie ein englischer Inder, der sich nicht sehr mit den Traditionen auskennt … Aber ich mag dieses Gemeinschaftsgefühl«, fügte er nachdenklich hinzu.
Als sie den Tempel betraten, war Jade froh, dass sie ein etwas längeres beigefarbenes Kleid ausgewählt hatte, um Rajiv zu begleiten. Die Inder grüßten sie mit jener unnachahmlichen Neigung des Kopfes, von der man nicht gewusst hätte, ob sie negativ oder positiv zu deuten war, wäre sie nicht von einem Lächeln begleitet.
Während der Zeremonie übersetzte Rajiv ihr ein paar Bruchstücke der heiligen Worte, er flüsterte ihr zu, dass die
Puja
eine Art Kommunion zwischen dem Göttlichen und der Welt sei, und während er sprach, berührten seine Lippen ihren Hals. Er hatte sich bei der Zeremonie nicht zur Gruppe der Männer gesellt. Sie standen etwas abseits, wie Gäste. Und Rajiv hatte recht gehabt: Im Innern des Tempels war alles mit Holzschnitzereien ausgeschmückt, mit bunten Stoffen bespannt und golden verziert, man hätte meinen können, man wäre irgendwo in Indien.
Eine Stunde später, sie gingen den Canal Saint-Martin hinauf, erzählte Rajiv ihr von seiner ersten Reise in das Land seiner Väter.
»Ich war Europäer wie du. Das indische Viertel von London hat nichts mit Indien zu tun. Eine Stadt wie Puducherry hätte ich mir nie vorstellen können, bevor ich sie kennenlernte und eine Zeitlang dort wohnte. Zweihunderttausend Fahrräder und Tausende anderer Fahrzeuge, aber vor allem diese unzähligen Menschenmengen,Männer und Frauen, die dieselbe Hautfarbe hatten wie ich und doch auf den ersten Blick erkannten, dass ich Ausländer war. Dazu noch diese feuchte Hitze und der Gestank …« Plötzlich verstummte er, als wolle er sich den Wellen der Erinnerungen öffnen. »Am Anfang fand ich den Gestank unerträglich. Ich schämte mich. Ich hatte Angst vor dem Elend, dem Kastenwesen. Hier siehst du Individuen auf der Straße, und selbst in einer großen Menge sind es immer noch einzelne Personen. Aber dort hast du den ganzen Tag den Eindruck, die gesamte Menschheit vor Augen zu haben. Diese Reise war eine Serie von Erdbeben, und schon in dem Moment, als sie mich erfassten, wusste ich, dass sie mich für immer verändern würden. Dann traf ich einen Yogimeister … und begann zu verstehen, wer ich war. Meine ganze Existenz geriet ins Wanken. Ich sehnte mich nach diesem Land, obwohl ich es noch nicht einordnen konnte, aber das war auch nicht mehr so wichtig. Schließlich spürte ich, dass Europäer immer alles verstehen wollen … Dass es aber auf etwas ganz anderes ankommt.«
Er schwieg und beugte sich über das Geländer, betrachtete das Spiegelbild der Baumkronen im Wasser. Jade hatte ihre Hand in seinen Nacken gelegt und streichelte ihn sanft.
»Wenn ich darüber nachdenke«, fuhr er fort, »bin ich dir näher als jedem beliebigen Inder, und dennoch bin ich von diesem Land besessen … So wie mich vorher die Musik beherrscht hatte … Wie eine Frau einen Mann sein Leben lang beherrschen
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