Fruehstueck mit Proust
kann.«
Jade wagte nicht aufzuschauen. Sie spürte, wie sein brennender Blick sie durchbohrte. Warum dieses Beispiel und nicht das Gegenteil? Konnte ein Mann nicht auchdas Herz einer Frau beherrschen? Es ist lächerlich, mit dreißig solche Gefühle zu haben, dachte sie. Mit dem Herzklopfen eines Teenies, überwältigt vom ersten Kuss. Sie schloss die Augen, um die Sanftheit seiner Lippen auf den ihren intensiver zu spüren.
Dass Rajiv in ihr Leben getreten war, stillte auf eine Weise ein Verlangen: den Wunsch, der Banalität zu entfliehen. Wenn sie mit Freunden darüber zu reden versucht hatte, hielten die das für eine depressive Phase! Ich möchte nicht leben, ohne ein Bewusstsein meines Lebens zu haben, sagte sie ihnen. Das ginge auch wieder vorüber, bekam sie dann zu hören. Sie wollte aber nicht, dass es »vorüberginge«. Es war ein großes Geschenk, daran zu glauben, dass ein von Leidenschaft erfülltes Leben möglich wäre und nicht nur ein Traum. Jade wollte ausleben, wonach ihr Herz sich verzehrte. Ihre Fingerspitzen waren ebenso zart und rau, wie sie sich das auch vom Leben erhoffte. Sie wollte gern glauben, dass alles, wonach man sich mit ganzer Kraft sehnte, schließlich auch eintrat – aber ganz sicher war sie sich nicht. Und die Vorstellung, sie könne eines Tages einschlafen und ihre hochfliegenden Träume vergessen, war ihr unerträglich. Sie war dreißig, alles lag noch vor ihr, und der spitze Dorn ihrer schriftstellerischen Ambitionen trieb sie an. Doch es war, als würde sie jeden Tag aufs Neue am Rande eines Abgrunds balancieren. Und manchmal schlug ihr dort der schneidende Wind der Frage über die Sinnlosigkeit des Lebens entgegen. Die geheimnisvollen Dämonen, die sie ins Jenseits locken wollten, waren mächtig.
Aber hätte sie das als Journalistin sagen können? Brauchte es nicht den barmherzigen Mantel der Fiktion, um solche Wahrheiten erträglich zu machen?
Mamoune
N ach drei Tagen hat Denise noch immer nicht auf meine erste Post geantwortet. Jade ist wütend und ungeduldig, ihre Tante sei wohl überfordert mit dieser Art von Hilfsmitteln, die der Schnelligkeit dienten. Ich für mein Teil neige eher dazu, all diese modernen technischen Geräte für gefährliche Tyrannen zu halten, die uns zu Sklaven machen. Jade selbst hat mir das heute bestätigt, als sie mir ihren Ärger darüber gestand, dass die Leute, die sie anrufen, das Gespräch mit der unvermeidlichen Frage beginnen: Wo bist du? Am anderen Ende der Leitung, antwortet sie dann, um die Sache abzukürzen. »Dabei ist es doch gerade das Schöne«, schimpft sie, »dass diese mobilen Telefone es dem anderen unmöglich machen, uns zu lokalisieren …« Ich habe gar keinen Anschluss mehr, und mir geht es damit auch nicht schlechter, dachte ich bei mir. Jades Handy gibt mir oft das Gefühl, sie schleppe eine Telefonzentrale mit sich herum. Und vor allem gibt es ihr mehrmals am Tag die Gelegenheit, laut fluchend ihre Tasche auszuschütten, wenn es klingelt.
Auch heute ging es schon früh am Morgen los. Jade sprang auf: »Einen Moment, Mamoune, ich stelle nur kurz auf stumm, dann probiere ich deine Brioches …« Was bei mir, die nie den Einfall hatte, auf stumm zu stellen, für große Verwunderung sorgt. Ich komme mir vor wie aus einer anderen Welt mit meinen Brioches, die sie immer noch verschlingt, als wäre sie vier! Ich nutze den kurzen Moment, wo sie auf einer Ecke des Tisches sitzt,um sie zu fragen, wie wichtig ihr eigentlich das Schreiben ist. Sie runzelt die Stirn, hört auf, ihre Brioche in die Schokolade zu tunken.
»Seit ich dreißig bin, denke ich, dass ich vielleicht schon die Hälfte meines Lebens hinter mir habe«, erklärt meine Enkelin. (Wenn das so ist, denke ich, habe ich die Grenze des meinen schon reichlich überschritten!) »Und wenn die zweite Hälfte genauso schnell vorüberrast, ist es bald vorbei mit mir. Solche Gedanken habe ich mir schon immer gemacht, schon als ich klein war. Diese absurden Fragen scheinen sonst niemanden zu interessieren … Aber ich glaube, genau sie sind der Grund, warum ich schreibe. Irgendetwas im Schatten verlangt nach Ausdruck und zwingt mich, ganze Seiten mit Bildern, Gefühlen und Fragen zu füllen, die kein Mensch hören will, in den Romanen aber jeder liest.«
»Willst du damit sagen, diese Ängste, Schicksale und Lebensläufe verstecken sich irgendwo im Raum, wo die Schriftsteller sie aufspüren, um sie uns zu erzählen? Willst du also sagen, du hörst Stimmen, meine
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