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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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im Hier und Jetzt zu leben, ohne mich um den Rest zu kümmern.
    Mal überlegen, das war 1957, zwölf Jahre nach dem Krieg und all seinen Gespenstern, die wir noch nicht ganz abgeschüttelt hatten. Mein Jüngster war fünf, die Älteste elf und die beiden anderen neun und sieben Jahre alt. Die lange, anstrengende Kleinkinderzeit ging zu Ende, ich fühlte mich jung und voller Energie, seit sie mir nicht mehr am Rockzipfel hingen und mein Rock mich nicht mehr so einschnürte wie in den rasch aufeinanderfolgenden Schwangerschaften. Ich fing an, fremde Kinder zu hüten, um etwas Geld dazuzuverdienen, aber vor allem, weil es eine fröhliche Arbeit war, bei der ich meine Familie nicht allein lassen musste. Im Dorf nannten sie mich schon »die kleine Mutter«. Man bat mich, es auch weiter zu machen, was schließlich meine Berufung wurde: Ersatzmutter zu sein.
    Ein angenehmes Leben. Und wenn ich diese Erinnerungen heraufbeschwöre, sehe ich Jade in einem anderen Licht. Sie hat sich gerade von dem Mann getrennt, den sie für ihren Weggefährten hielt. Sie arbeitet, und wenn ich es richtig verstanden habe, ist es ein ständiger Kampf,ihre Artikel zu verkaufen. Obwohl sie noch Zeit hätte, alles auf sich zukommen zu lassen, stellt sie sich, wie ich finde, wichtige Fragen über das Kinderkriegen, diesen vagen, von der gnadenlosen biologischen Uhr bedrohten Wunsch. Welches ist das richtige Alter, um das erste Kind zu bekommen? Arme Jade, die sich um ihre Zukunft sorgt und nichts davon im Schatten lässt. Noch dazu wird sie durch das Leben mit mir ständig in ihr zukünftiges Alter hineinprojiziert. Jeden Tag hat sie das Bild einer unterwegs aufgelesenen Großmutter vor Augen! Ich kann mir vorstellen, welche Flut von Gedanken sie bestürmt und sie an ihrer Zeit und an ihrem Leben zweifeln lässt. Ich nehme sehr ernst, was sie mir heute Morgen beschrieben hat, denn sie ist zugleich ein gutes Beispiel ihrer Generation und Erbin einer inneren Unruhe, die ihr selbst dann noch zusetzen würde, wenn sie einen Ehemann, Kinder und den materiellen Wohlstand hätte, den sie sich, glaube ich, wünscht.
    Wenn ich mir den Sturm von Fragen ansehe, der über Jade hinwegweht, kommt mir zwangsläufig der Gedanke, eine jener gequälten Seelen vor mir zu haben, aus denen Bücher, Gemälde oder auch die Musik hervorgehen.
    Gestern hat sie mir zum ersten Mal von ihrem Beruf erzählt und wollte mir unbedingt die dort herrschenden Regeln erklären, was ich als einen Vertrauensbeweis empfinde. Vielleicht hält sie ihre Großmutter doch nicht für zu alt oder zu ungebildet, um sie zu verstehen? Sie sagte, wenn sie einen Artikel schreibt, stehe immer die Situation an erster Stelle, diese journalistische Grundregel hätten sie ihr schon während des Studiums eingebläut. In den ersten Zeilen einer Reportage müsse bereitserkennbar sein: wo, wer, was, wie, warum, mit wem, wie lange? Komisch, sagte ich mir, ohne sie zu unterbrechen, das sind genau die Fragen, die jeder Mensch sich stellen sollte und die wir die meiste Zeit so gern verdrängen.
    Was mache ich hier, warum soll ich bleiben, mit wem, wo ist der Ausweg? Wie viel Zeit habe ich noch?
    Plötzlich habe ich begriffen, was Jade an diesem Beruf so fasziniert haben mag. Und ich verstehe ihre Empörung darüber, dass man Dinge als banal bezeichnet und darum totschweigt, um nicht über sie reden zu müssen. Hinter der Angst vor den Fragen, die man nicht stellt, steckt die Dürftigkeit der Antworten. Ich habe nie geschrieben, aber ich glaube, ich bin an der Schwelle zum Tod nicht viel weiter als sie, die noch ganz am Anfang ihres Frauenlebens steht. Ich hatte mich in ihrem Alter ja bereits für einen unumkehrbaren Weg entschieden.
    Ich bin eine alte Frau, die versucht hat, sich hier und da ein wenig Bildung zusammenzuklauben, aber ich komme vom Land, aus den Bergen, wo auch die größte Verzweiflung nur vom Echo des Windes erwidert wird. Im Krieg kannte ich Familien, in denen die Kinder ihre Eltern auf Knien anflehten, nicht … davonzugehen – schon bei dem Gedanken an Selbstmord begehrt es in mir auf –, um dem Elend und der Not zu entfliehen. Heute würde man auf dem Land solche Szenen nicht mehr erleben müssen, aber das Wunder lag in der Antwort, die der Wald ihnen bot. Das üppige Grün und der strahlende Himmel in ihrer Anmut und Schönheit berührten die Herzen, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Oft, wenn einer dieser Verzagten in die Berge hinauflief, verging ihm der Wunsch zu sterben.

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