Fruehstueck mit Proust
aus Übersee mitbrachte.«
Bei unserem letzten Treffen nahm er meine Hände in die seinen und fragte mich, ob es nicht zu schmerzhaft für mich sei, ihm von meiner letzten Begegnung mit Henri zu erzählen, einige Stunden vor seinem Tod. Albert war im Ausland und erfuhr bei seiner Rückkehr nach Paris, dass sein Bruder gestorben sei. Lange hatte er die Schlossbewohner im Verdacht, ihm den Ernst seines Zustands absichtlich verschwiegen zu haben, damit er nicht an sein Bett eilte.
So erzählte ich ihm denn, wie er darauf bestanden hatte, dass ein Bediensteter des Schlosses mich nach Hause begleitete, mit einer Truhe, die die gesamte Erstausgabe der
Encyclopédie
enthielt. Wenn ich daran denke, dass sie immer noch an ihrem Platz in meinem Haus steht … Ich habe sie in den Flur gestellt, eine riesige Pflanze steht davor und hat sie in all den Jahren vor Blicken geschützt. Ich glaube, ich weinte und bat Henri, die Redezeit etwas anderem zu widmen, als mir Bücher zu vermachen, aber er war erst beruhigt, als er die Gewissheit hatte, dass ich mit seinem Abschiedsgeschenk im Auto nach Hause fahren würde. Er sah mich aus seinen stahlblauen Augen an und sagte: »Ich weiß, dass der Körper Ihnen nie gefallen hat, und ich hätte Ihnen stattseiner gern den Geist gelassen, weil er weniger krank ist, aber ich fürchte, die beiden sind unzertrennlich und halten nichts von einer solchen Idee.« Ich versuchte zu protestieren, aber er drückte meine Hand, und ich wusste, er war zu klug, um nicht zu bemerken, dass meine Freundschaft zu ihm zwar tief, aber rein geistiger Natur war. »Protestieren Sie nicht, meine liebe Freundin«, sagte er, »nur Frauen sind zu dieser schrecklichen, unschuldigen Liebe fähig. Ich kenne keinen Mann, der nicht in irgendeinem noch so flüchtigen Moment die Frau begehrt hätte, deren Verstand er bewundert. Aber Scherz beiseite, ich werde nicht sterben, bevor ich es weiß. Haben Sie mich ein bisschen geliebt, Jeanne?« – »Ja, Henri«, sagte ich zitternd, »ich liebe und ich bewundere Sie. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was Sie mir bedeutet haben in all diesen Jahren.« Ich erinnere mich noch sehr genau daran, aber dieses Liebesgeständnis habe ich Albert verschwiegen. Ich bin zu schüchtern, um es ihm zu erzählen. Und ich habe ihm auch Henris Antwort verschwiegen. »Sie wären eine bewundernswerte Witwe, Jeanne, aber wer weiß, vielleicht würde ich dann gar nicht sterben.« Nach dieser Unterhaltung verzerrte sich Henris Lächeln zu einer Grimasse, er drückte meine Hand und ließ seinen Kopf auf das weiße, spitzengesäumte Kissen sinken. Ich dachte an seine Frau, die drei Monate zuvor an einer seltenen, der Demenz ähnlichen Krankheit verstorben war. Ich wollte mich zurückziehen. »Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Ich komme morgen wieder.« Noch einmal nahm er meine Hand. »Bitte, Jeanne, ich habe Sie nie versetzt. Ich möchte auch jetzt nicht damit anfangen.« In der Nacht erlag er dem Bauchspeicheldrüsenkrebs, der ihn seit Monaten quälte.
»Danke, Jeanne, dass Sie diese schmerzvolle Erinnerung für mich bewahrt haben. Es tröstet mich, wenn ich nun weiß, dass Sie bei ihm gewesen sind.«
Seine Hände ließen meine die ganze Zeit über nicht los und wischten die Tränen fort, die mir über die Wangen liefen.
»Jeanne, wissen Sie, warum Tränen salzig sind?«
»Um uns daran zu erinnern, dass der Ozean ein sehr großer Kummer ist? Keine Ahnung, ich rede Unsinn. Was weiß ich schon vom Salzwasser, wo ich doch das Meer nie gesehen habe! Wenn wir über Bergseen reden würden, hätte ich mehr zu sagen! Aber die kennen Sie ja genauso gut wie ich.«
»Was sagen Sie? Sie wollen mir weismachen, dass Sie in Ihrem ganzen Leben nie am Meer gewesen sind? Das kann nicht sein.«
»Ich kann es Ihnen nicht verheimlichen, da wir ganz offen miteinander sprechen. Wir sind in derselben Region aufgewachsen, ich aber habe mich nie von dort fortbewegt, oder kaum …«
Ich bin ein paar Mal nach Paris gekommen, ich war in der Schweiz, aber das Meer, das ich auf meiner Hochzeitsreise hätte sehen sollen, hat sich mir immer entzogen. Später hätte ich dann einmal meine Kinder dort treffen sollen, aber wie das Leben so spielt, es klappte wieder nicht … Kurzum, jedes Mal, wenn ich am Meeresufer hätte stehen sollen, kam irgendetwas dazwischen.
Ich spürte, dass er gerührt war und es kaum glauben konnte. Er ließ meine Hände nicht los und hatte bestimmt längst vergessen, dass er mir das Salz in den Tränen
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