Fruehstueck mit Proust
kannte, aber verehrte, hatte ihr etwas enthüllt, das ihr bis dahin unbekannt war, und das war so viel wieSelbstvergessenheit, den Wunsch, sich aufzulösen und nichts mehr zu kontrollieren. Er hatte sie zu einer ihr Unbekannten hingeführt, einer Frau, die sie in sich trug und die er auf die Welt geholt hatte. Sie sah sich wieder schreien, weinen, stöhnen, vollkommen dem Begehren ausgeliefert, in den tiefen Abgründen eines fast unerträglichen Rauschs. Als sie danach durch die Straßen ging, fürchtete sie, das alles müsse noch auf ihrem Gesicht zu erkennen sein. Sie glaubte in den Augen der Passanten zu sehen, dass sie in ihr lasen wie in einem offenen Buch. Sie schauten sie an, sehr beharrlich, als suchten sie zu ergründen, was an ihrem, wie sie hoffte, ausweichenden Blick sie so fesselte. Aber sie hatten recht, sie wich ja gar nicht aus. Sie schaute sie aus eben diesem Innersten an, wohin sie kurz zuvor zum ersten Mal hinabgestiegen war, und die Liebe, die sie von dort mitbrachte, war gewaltig, leidenschaftlich und jedem bestimmt.
Jade sah in das trostlose graue Wetter hinaus. Sie dachte an Mamoune, die mit ihrem Verleger, der vielleicht eines Tages der ihre sein würde, weggefahren war. Auf dem Küchentisch hatte sie einen lieben Brief, einen Früchtekuchen, Blumen und Hinweise für die Pflege der Balkonpflanzen hinterlassen. Jade empfand an diesem Morgen alles so gegenwärtig. Das Leben, Mamounes Geschichte, ihre Reise, das Eichelhäherpaar auf dem Fensterbrett gegenüber – an diesem Morgen, der keiner war, denn es war fast zwei Uhr nachmittags, als sie aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Sie hatte sich einen Kokostee bereitet, ihr Lieblingsgetränk aus Studienzeiten. Sie betrachtete den Herbst und dachte, dass sie sehr schöne Momente mit Mamoune erlebt hatte, dass die Zeit an ihrer Seite schneller verflogen war, als sie gedacht hätte,dass ihre Tanten sich wenig darum kümmerten, ob es ihrer Mutter gutging. Sie riefen sie gelegentlich an, kamen aber nie auf die Idee, ihr eine kurze Nachricht zu schicken. Dabei hatte Jade ihnen mitgeteilt, dass ihre Mutter nun »online« sei und eine eigene E-Mail-Adresse habe.
»Dafür sind sie zu alt!«, hatte Mamoune mit einem Augenzwinkern gesagt und dabei gedacht: Warum sind sie so desinteressiert? Serge, Jades Vater, schrieb ihnen mehrmals in der Woche. Er schickte Musik, Fotos, Gedichte. Alles, was seiner Mutter und seiner Tochter sein Leben auf der Insel mit seiner Frau und den Kindern ein wenig näher brachte. Sie telefonierten oft über das Internet, und es rührte Jade zu sehen, wie Mamoune noch ihre Frisur in Ordnung brachte, bevor sie den zerzausten Kopf ihres Sohnes bemerkte, der mit Zeitverzögerung lachte und sich darüber freute, wie gut sie zusammenlebten und glücklich waren.
An all das dachte Jade, um nur nicht an Rajiv zu denken, daran, dass sie schon wieder Sehnsucht nach ihm hatte, Lust, ihn anzurufen, zu ihm zu gehen, ihren Körper an den seinen zu schmiegen. Sie schob auch den Gedanken beiseite, dass sie sich um einen Pflegedienst kümmern müsse für den Fall, dass sie mal über Nacht wegbliebe und Mamoune allein ließe. Sie wusste noch nicht, wie sie diese Liebe unter einem Dach mit ihrer Großmutter leben sollte. Irgendetwas war ihr unangenehm bei dem Gedanken, Rajiv einzuladen, die Nacht bei ihr zu verbringen.
Mamoune war für etwa eine Woche fortgefahren, sie wusste noch nicht, wie lange ihr improvisierter kleinerUrlaub dauern würde. Beim Abschied machte sie einen glücklichen Eindruck, wenn sie auch ein bisschen aufgeregt war über das plötzliche Abenteuer, bei dem das Meer zu sehen nur ein hübsches Alibi dafür war, sich bei dem Mann unterzuhaken, der sie gleich im Taxi abholen würde, um mit ihr zum Bahnhof zu fahren. Jade hatte ihr geholfen, die richtige Kleidung auszuwählen und den Koffer zu packen, sie hatte ihr erzählt, dass der Mistral zu dieser Jahreszeit mitunter sehr heftig wehen konnte, dass es abends kühl war, am Nachmittag aber eine herrliche Herbstsonne scheinen konnte, in der eine leichte Bluse ausreichte. Sie spürte, wie nervös Mamoune war. Hören wir nie auf, uns vor dem zu fürchten, was uns lockt, nicht mal in dem Alter?, fragte sich Jade, ohne zu wagen, ihr diese Frage zu stellen. Doch Mamoune hatte diesem Wochenende zugestimmt, das Albert, einem plötzlichen Impuls folgend, auf eine Woche ausgedehnt hatte. Er hatte einen Tag zuvor angerufen, und Mamoune hatte seinen Vorschlag mit lauter Stimme
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