Fruehstueck mit Proust
Aber was macht man, wenn man in der Stadt lebt und todunglücklichist? Kein liebendes Gesicht, das sich über einen beugt, keine Natur, deren Vollkommenheit einen besänftigen könnte. Ich nehme an, es ist eine späte Gnade, die Berge verlassen zu haben, in denen ich seit meiner Kindheit zu Hause war, und noch am Leben zu sein. Ich war so erfüllt, dass mancher Kummer mir unbegreiflich geblieben wäre, hätte ich nicht einige Zeit hier in der Hauptstadt gelebt. Es ist nicht so, dass sie mir arm oder benachteiligt erscheinen würde. Aber hier treten das menschliche Elend und die Einsamkeit deutlicher zutage und stoßen bei mir auf ein offenes Ohr. Ich verdanke es Jade, dass ich nicht aus dieser Welt gehen werde, ohne das entdeckt zu haben, und noch etwas, das damit zusammenhängt: die demütige Bereitschaft, in jedem Alter zu lernen.
Wenn ich zu dem Wunder meines neuen Lebens noch die zärtliche Freundschaft zähle, die aus der Begegnung mit Albert entstanden ist, komme ich mir beinahe schon wie ein liederliches Frauenzimmer vor, das sich von einem dahergelaufenen Hallodri betören lässt.
Apropos, Jades Gemütszustand hat meinen Enthusiasmus etwas gebremst, ich habe mich noch nicht getraut, ihr zu beichten, dass ich mit Albert in sein Haus am Mittelmeer fahren werde. Was für eine blöde Situation: Es ist mir peinlich, meiner Enkeltochter zu sagen, dass ich wegen einer Eskapade für ein paar Tage ihre gemütliche Wohnung verlasse. Fehlt nicht viel, und ich frage sie um Erlaubnis und habe dann noch Angst, sie nicht zu bekommen. Aber nein, Jade hat die neue Version ihres Romans fast fertig, und ich glaube, sie kann es kaum erwarten, zu hören, was Albert davon hält. Und ich bin genauso nervös wie sie. Ich werde einen Blickriskieren, wenn Albert ihn liest – wenn ich selbst auch nie seinen Blick auf mir ertragen könnte, während ich lese. Aber das ist wohl was anderes. Ja, ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Henri mich im Park seines Schlosses überraschte und mich lange anschaute, bis ich seine Anwesenheit bemerkte! Ich war ganz in
Anna Karenina
vertieft, und als ich endlich spürte, dass ich beobachtet wurde, fühlte ich mich wie dabei ertappt, dass ich mitten im Sommer voller Wonne in einem kühlen Wasser badete.
Albert hat mir zurückgegeben, was ich mit Jeans Tod verloren habe: dieses ganz besondere Aufblühen, das man durch den Blick des anderen erfährt. Man hat kein Alter in diesem Blick, man hat nur das Glück, von Zärtlichkeit überflutet zu werden. Spiegel werden bedeutungslos, wenn man seit langer Zeit im verliebten Blick eines Menschen lebt, den man auswendig kennt. Bei seinem Tod bekommt man diesen Spiegel wieder brutal vorgehalten, den man so lange ignoriert hat und der einem nun diese Selbstvergessenheit zurückzuwerfen scheint. In wenigen Minuten wird man ein anderer, wie das Porträt des Dorian Gray, als er sein wahres Alter wiedererlangt. Das Resultat ist nicht immer ganz so hässlich, aber ohne diesen anderen sieht man sich plötzlich mit einem unnachsichtigen Blick, der das eigene Gesicht, nun unter der Lupe betrachtet, runzlig aussehen lässt.
» D ie Bücher pflastern meinen Fragen den Weg. Sie sind die Antworten. Wie gelangt man dorthin, wo uns etwas erwartet? Was kostet das Glück?« … »Alle Wege führen in den Tod. Alles Licht scheint ohne Glanz, sagt es nicht seinen Namen. In der Dunkelheit tastet der Suchende sich mit den Fingern voran … Alles ist eins. Wie ein Stück Universum in uns, wie ein Teil von uns in diesem Universum …«
Jade überflog die Seite, geriet an manchen Stellen ins Stocken. Sie war fassungslos. Das sollte sie geschrieben haben? Das konnte sie nicht geschrieben haben! Dieser Text kam ihr so fremd vor. Und doch erinnerte sie sich, wie sie am frühen Morgen nach Hause gekommen war, nachdem sie eine ganze Nacht mit Rajiv verbracht hatte. Sie sah sich wieder vor sich, trunken vor Müdigkeit und vor Liebe, wie magnetisch angezogen von dem Schreibtisch in ihrem Zimmer. Sie hatte sich vor dem Schlafengehen nackt davorgesetzt. Die Brüste an die Tischplatte gedrückt, hatte sie sich einen Stift und Papier genommen und geschrieben, bevor sie sich aufs Bett warf und ihr Heft und den quer darüberliegenden Stift vergaß. Und jetzt war sie bereit, diesen Text zu verleugnen, nur weil sie ihn nicht verstand und er ihr Angst machte. Geschriebene Worte hatten Zauberkräfte, aber konnte die Macht der Liebe sie verändern? Dieser Mensch, den sie noch nicht lange
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