Fruehstueck mit Proust
abzeichnet, die sie aber noch nicht sehen kann.
»Sie sind so in Gedanken, Jeanne, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Sie ebenso unerwartet wie dreist entführt zu haben?«
»Ich habe Ihre Einladung angenommen, Albert, Sie haben mich nicht verschleppt!«
»Oh, ein kleines bisschen schon, lassen Sie mich doch wenigstens in dem Glauben. Aber Sie sind ja selbst schuld. Sie haben mich provoziert, indem Sie sagten, Sie hätten noch nie das Meer gesehen!«
Er lächelte und fuhr fort:
»Ich habe noch einmal über Ihr geheimes Leben nachgedacht, über Ihre ganz besondere Beziehung zu Büchern, aber ich habe mich gefragt, wie Sie es angestellt haben, nicht unter der Einsamkeit zu leiden, die Ihr Geheimnis Ihnen auferlegte. Sie sind eine Frau, die sich gern mitteilt, das sieht und das spürt man. Sie hatten Henri, ich weiß, aber Sie haben auch vor und nach ihm gelesen.«
»Ich glaube, ich war es nicht gewöhnt, Bücher, die ich mochte, mit Worten zu beschreiben, so wie Sie. Das Lesen hat mich vor allem mit einer Art innerem Gesang erfüllt. Ich hatte nicht den Intellekt, der es mir erlaubt hätte, über meine Lektüren auch noch zu reden. Die Einsamkeit diente mir als Schutzwall. Mein Leben im Dorf war beherrscht von Klatschgeschichten und mein Leben in den Büchern vom Schweigen. Das war doch ein schönes Gleichgewicht, finden Sie nicht?«
»Ach, Jeanne, Sie machen sich ja keine Vorstellung! Wir kennen uns jetzt seit zwei Monaten. Mal sehen, wenn ich Ihnen zum Beispiel so etwas sage wie: ›Sinn für das Mögliche‹, ›Sinn für die Realität‹ und ›Sinn für die möglichen Realitäten‹, an wen denken Sie da?«
»Das ist ein spannendes Gebiet, das mich schon faszinierte, als ich den
Mann ohne Eigenschaften
entdeckte. Also, ich denke dabei natürlich an Musil.«
Ich kann Alberts Miene an diesem Punkt unserer Unterhaltung kaum beschreiben. Ich befürchtete schon, eine Dummheit gesagt zu haben, da ergeht er sich in einer Reihe von konfusen Erklärungen und Komplimenten, oder wenigstens scheint es mir so. Ich begreife nicht, was so besonders sein soll an dem, was ich gerade gesagt habe; genauso gut hätte ich Don Quijote nennen können, der auch keinen schlechten Sinn für Realitäten besitzt! Es bereitet mir solches Vergnügen, ihm zuzuhören und diesen Mann, der ein lebendiges Buch ist, Dinge sagen zu hören, die mich bezaubern. Ich lasse mich von ihm einlullen wie von einer Melodie. Sosehr ich Bücher hasse, deren Dialoge nur aus dem Alltag abgeschrieben sind, so sehr liebe ich Menschen, deren Worte wie gedruckt klingen. Es ist, als würde Albert in einen Korb greifen, in dem all die Wörter und Wendungen liegen, die ich am meisten mag. Ich bin doch wirklich albern. Es ist zum Heulen, wenn man eine so kindische Begeisterung nicht mal vor sich selbst verbergen kann. Aber wozu auch, ich bin nun mal begeistert, und es ist gut zu wissen, dass so ein Mann existiert und dass er vor mir wusste, wie sehr der Anblick des Meeres mich bezaubern würde.
Ich hatte das Meer häufig im Fernsehen und auf Fotos gesehen, für mich war es nichts als ein großer See. Ich rechnete also nicht damit, dass es mich wirklich überraschen würde. Aber Albert hatte es vorhergesagt. Sie werden schon sehen, Jeanne, wenn man dem Meer erst spät begegnet, flüstert es einem zu, dass man ohne es verwaist war …
Er nahm mich bei der Hand, und wir durchquerten den mit Schirmpinien, Eichen und Mimosen bewachsenen Garten, gingen durch das kleine Tor, das auf den Strandführte, und plötzlich dehnte sich vor meinen Füßen eine wogende Ewigkeit von Wasser, das in der Sonne glitzerte. Ein Meer von Diamanten, ein unschätzbares Geschenk, das an nichts heranreichte, was mir im Leben je begegnet war, denn die Weite der Berge ist mir so vertraut, dass sie nicht die geringste Verwunderung mehr in mir auslöst. Ich bin hingerissen und Albert so dankbar, dass er sich diese späte Begegnung vorstellen konnte und mit unendlichem Feingefühl möglich gemacht hat. Er hilft mir, die Schuhe auszuziehen, und sagt, die Taufe der Füße im Sand und später im Wasser sei unentbehrlich in einem so einmaligen Augenblick. Ich kremple mir die Hosenbeine hoch und er die seinen. So ähneln wir den bretonischen Fischern auf den Radierungen, die wir in unserer Jugend als Postkarten verschickten. Ich fange an, uns komisch zu finden, zumal Albert mich auffordert, doch mal zu probieren, wie salzig das Wasser schmeckt, wo es mir doch nur bis zur Wade reicht!
»Heute
Weitere Kostenlose Bücher