Fruehstueck mit Proust
wirklich nicht so zusammenfassen lässt … Ich glaube, ihm ist klar, wie gefährlich es ist, in unserem Alter allein zu leben, und auch wenn er nicht darüber redet, weiß ich, dass er die möglichen Schwachstellen ahnt. Er ist zu stolz, um aufzugeben, zu klug, um das Debakel nicht kommen zu sehen, und trifft seine Vorkehrungen. Aber das Schönste unterschlage ich in dieser nüchternen Bilanz: das wertvolle Geschenk unserer späten Freundschaft. Wir beide haben geliebt, selbstverständlich, undwir haben sehr gelitten nach dem Tod unserer Partner. Wir haben weitergelebt, wohl wissend, dass wir diese Leere überwinden mussten, ohne je ersetzen zu wollen, was unersetzlich war. Je nach Tagesverfassung schafften wir es besser oder schlechter, die Einsamkeit zu ertragen und uns darüber zu freuen, dass wir dem anderen die Schmerzen nicht mehr aufbürden mussten, die uns quälten. Beide besitzen wir das Temperament, um das geflügelte Wort zu entkräften, wonach man sich ab einem gewissen Alter von einer Krankheit zur nächsten hangelt, ohne sich je ganz zu erholen, bis sie einen schließlich an die Gestade des Todes spülen. Ich schweige und beiße die Zähne zusammen, er schimpft und flucht, jeder hat seine eigene Technik, den Feind niederzuzwingen und darauf zu warten, dass er woanders wieder auftaucht, mit der Beharrlichkeit einer lästigen Fliege. Und dennoch, solange man sich immer wieder ein Herz fasst und gegen die Spuren des Alters ankämpft, ist das Leben kostbar.
Als altes Liebespaar ähneln wir den Mimosen in Alberts Garten. Erblühen im Oktober, und für die Dauer eines Lachens erleuchtet uns diese wunderbare Liebe. Er hat Charakter, und ich bin schlagfertig, jetzt, wo ich nicht mehr schweige. Über die winzigen Unstimmigkeiten zwischen uns gehen wir lachend hinweg.
Jetzt muss ich nur noch mit Jade über diese verrückte Idee reden. Nicht, dass ich sie um Erlaubnis fragen müsste, aber wir haben ein so gutes Verhältnis zueinander, und die Freiheit, die ich heute genieße, habe ich ihr zu verdanken. Denn was wäre aus mir geworden, wenn Jade mich meinem traurigen Los in einem Pflegeheim überlassen hätte? Es hätte wohl für immer seine Krallen um mich geschlossen.
Epilog
I m Wohnzimmerspiegel begegne ich meinem Blick. Ich habe dunkle Ringe unter den Augen. Ich erkenne mich kaum wieder. Vor zwei Monaten habe ich mich hierher zurückgezogen, in das Haus, in dem meine Großmutter wohnte. Zwei Monate, in denen ich Tag und Nacht geschrieben habe. Ich lasse mir von der Nachbarin fertig zubereitetes Essen bringen, oder ich ernähre mich von dem, was ich hier auftreibe. Gelegentlich schauen meine Tanten vorbei, sie machen sich Sorgen, weil ich mich hier mit meinen Notizen vergraben habe. Meine einzigen Spaziergänge führen mich jeden Tag in den Garten, der wie durch ein Wunder aufgeblüht ist, obwohl ihn niemand pflegt. Seit ich in Mamounes Haus wohne, ist ihre Katze wieder aufgetaucht und sucht sie. Sie hat mich auch zu einer hinter einer Pflanze verstecken Truhe geführt, in der ich Diderots Enzyklopädie entdeckte. Sogar mit den ersten beiden, in Frankreich seinerzeit verbotenen Bänden, die ein savoyischer Aristokrat in seiner Bibliothek verwahrt hatte. Ich glaube mich zu entsinnen, dass Savoyen damals nicht zu Frankreich gehörte. Kurz und gut, sein Nachkomme scheint dieses Kleinod vollständig meiner Großmutter vermacht zu haben, begleitet von diesem schlichten Brief:
Ich möchte Ihnen, Jeanne, dieses kostbare Werk anvertrauen. Ich bin sicher, dass Sie, die insgeheim eine so subtile Kunst des Lesens in sich entwickelt haben, dieses Geschenk zu schätzen wissen. Nehmen Sie es von einem Freund entgegen, der Sie im
Verborgenen immer für Ihren Scharfsinn und Ihre diskrete Art bewundert hat. Ihr ergebener Henri de Saint-Firmin.
PS: Sollte es Ihnen eines Tages an geeigneter Lektüre fehlen, zögern Sie nicht, meinen Bruder zu kontaktieren, der den Verlag
En lieu sûr
leitet. Er wird, davon bin ich überzeugt, entzückt sein, endlich die heimliche Leserin kennenzulernen, von der ich ihm so viel erzählt habe. Fragen Sie im Schloss die alte Honorine, sie wird Ihnen die Geschichte dieses brillanten, von meinem Vater nicht anerkannten Halbbruders berichten, die ich Ihnen nicht anzuvertrauen wagte.
Im Wohnzimmer fand ich das enorm dicke Heft, in das meine Großmutter jahrelang alle Ausgaben ihres Haushalts notierte. Seine ganze zweite Hälfte ist mit Zitaten aus Hunderten von Werken gefüllt. Sätze, kurze
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