Fruehstueck mit Proust
Passagen aus Romanen, Gedichte, die sie ihr Leben lang mit ihrer kleinen, linkischen Handschrift notiert hat, manchmal fehlerhaft, weil sie das Original wohl nicht vor Augen hatte. Ich habe angefangen, dieses seltsame Buch der Auszüge zu lesen, die jeder mit dem Datum versehen sind. Am Ende hatte ich so etwas wie ein Völlegefühl, als hätte ich Unmengen erlesenster Literatur in mich hineingeschlungen: Victor Hugo und Flaubert, dazwischen Faulkner, Hemingway oder Melville. García Márquez neben Musil und Cervantes gleich hinter Pasternak, Conrad und Dostojewski … Ich war wie berauscht von ihrer Auswahl, von der Vielfalt ihrer Lektüren.
In diesem Heft fand ich auch den Brief, den ich meiner Großmutter vor einigen Monaten geschrieben habe. Darin verriet ich ihr, dass ich ein Buch geschrieben unddas Manuskript an verschiedene Verlage geschickt hätte, die mir aber allesamt Absagen erteilt hätten. An den Rand des Briefes hatte sie mit Bleistift geschrieben:
Ich könnte dir vielleicht helfen.
Ich habe so viele Tränen darüber vergossen, dass ich diesen Schatz nie habe mit ihr teilen können.
Mamoune ist vor zwei Monaten gestorben. Sie starb einundzwanzig Wochen nach ihrer Aufnahme in jenes Heim, in das sie nie hätte gehen dürfen.
Ich schleppe meinen Kummer und mein Schuldgefühl mit mir herum wie eine klaffende, blutige Wunde. Hätte ich bloß auf meinen ersten Impuls gehört und sie geholt. Ich hätte sie entführen, mich über die Entscheidung meiner Tanten hinwegsetzen und mit ihr zusammen in Paris leben sollen. Aber als ich herkam, konnte ich nur noch ihren letzten Atemzug einfangen, und die Spur eines Lächelns.
Mit einem fast schelmischen Blick ließ sie ihre Bibel in meine Hand gleiten. Als ich die Lederhülle entfernte, um Mamounes Veilchenduft zwischen den Seiten zu atmen, sah ich statt der Heiligen Schrift
Die wiedergefundene Zeit
von Marcel Proust.
Ich habe mich in ihr Haus zurückgezogen, ihrer Stimme gelauscht und unsere Geschichte aufgeschrieben. Ich habe sie geschrieben, als wäre es die einer anderen, um nicht bei lebendigem Leib zu verbrennen aus Scham, dass ich Mamoune im Stich gelassen habe.
Morgen fahre ich zurück nach Paris, ich werde alle meine Hefte vernichten, ich werde Julien sagen, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein möchte.
Ich betrachte den riesigen Tulpenstrauß, den Rajiv, mein Geliebter einiger Nächte, mir hat schicken lassen, und frage mich, wie er meine Adresse herausgefunden hat. Ich lese noch einmal die Zeilen, die dabeilagen:
Mögen meine Gedanken den Kummer über den Verlust deiner geliebten Großmutter mildern. Ich warte voller Ungeduld auf die Rückkehr der Frau, die ich unendlich liebe, um sie mit nach Indien zu nehmen. Wir müssen mutig zu unserer Liebe stehen und sie ausleben, solange wir da sind.
Bevor ich mit ihm abreise, werde ich das Manuskript meines Buches, das ich gerade beendet habe, zu Albert Couvin bringen, dem Verleger von
En lieu sûr
, in der Hoffnung, dass meine Kühnheit …
Paris, im Juni 2008
Die Autorin dankt
Hubert Nyssen für seine unablässige Aufmerksamkeit und weil er ein Verleger ist, der seine Autoren bis ins Innerste kennt,
Christine Lebœuf für ihre Liebenswürdigkeit und ihren herzlichen Empfang,
Jim, Lily-Sara, Jules, Arthur, Antoine, dem Orchester des Lebens, das sie auf dem Weg des Schreibens begleitet und beglückt hat,
Hélène Curutchet für ihren Humor und ihre unbeirrbare Freundschaft,
Régine Lemeur für ihr Lachen und ihre Ratschläge,
Yaron Herman, dessen lichtvolle Musik sie begleitete, als sie diesen Roman schrieb,
Yves-Marie Maurin, der das Manuskript als Erster laut gelesen hat, all den guten Feen von Actes Sud, die die Romane und ihre Autoren mit ganzer Leidenschaft tragen, beflügeln, unterstützen, betreuen, den Buchhändlern und Lesern, die
Die Liebe der anderen
1 unterstützt und ihr zu verstehen gegeben haben, warum es wichtig ist, zu schreiben und zu publizieren.
Quellenangaben
Mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House GmbH haben wir zitiert aus:
Radhika Jha,
Der Duft der Gewürze
© 2001 Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Gloria Ernst.
Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags haben wir zitiert aus:
Marguerite Duras,
Musica Zwei
© 1989 Suhrkamp Verlag. Übersetzung: Simon Werle.
Die im Roman zitierten Textstellen aus Edmond Rostand,
Cyrano de Bergerac
haben wir der deutschsprachigen Ausgabe in der
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