Frühstückspension: Kriminalroman
durch den Filter. Auf einem Stövchen zieht der Tee für Tomke.
Wir setzen uns und sehen schweigend nach draußen. Die Morgensonne wirft zartrosa Verfärbungen gegen den Himmel. Es wird Tag. Im Nachbarhaus verabschiedet sich ein junger Mann. Ein Mädchen winkt ihm lange hinterher.
»Durftest du deinen Freund mit nach Hause bringen?«, fragt Tomke, ohne ihren Blick vom Fenster zu lösen. »Ich meine: über Nacht?«
»Ja, das durfte ich«, antworte ich und muss plötzlich lachen. »Meine Mutter hätte sich gefreut, dass ich keine alte Jungfer werde. Ich glaube, das war ihre größte Sorge. Sie hätte mein Zimmer mit Rosen und Kondomen dekoriert. Da bin ich sicher.«
»Beneidenswert«, murmelt Tomke und sieht mich immer noch nicht an.
»Beneidenswert?«, wiederhole ich und spüre, dass mich diese Formulierung gegen sie aufbringt.
»Ja«, meint sie beharrlich. »Beneidenswert. Ich hatte nie ein eigenes Zimmer. Wir waren zu Hause zu fünft. Meine Eltern waren sehr konservativ. Und streng. Als ich mit Gerold in den Urlaub fahren wollte, ging das nur mit Trauschein. Ich war so jung und unbedarft und habe es getan. Ich habe einfach geheiratet, nur weil ich in den Urlaub fahren und endlich mit ihm schlafen wollte. Deshalb ist es beneidenswert, wenn man sich ohne Druck ausprobieren kann. Wenn man sich Zeit lassen kann.«
Ihre Stimme schwingt bedrohlich. Sie sieht mich an. Ihre Augen haben wieder dieses Feuer. Dieses Mal lasse ich mich nicht einschüchtern. Meine Jugend war nicht beneidenswert.
»Zeit«, setze ich langsam an, »genau die hat meine Mutter mir nicht gelassen. Sie hat auch Druck ausgeübt. Großen sogar. Ich sollte mein Leben so leben, wie sie es als lebenswert empfunden hat. Und in ihrer Geschwindigkeit. Bei ihr hatte ich immer das Gefühl, nicht schnell genug erwachsen zu werden.«
Tomke schenkt mir Kaffee ein und stellt mir Milch dazu. Sie sieht mich nachdenklich an.
»Vor Jahren hätte ich dir gar nicht mehr zugehört. Ich bin nicht besonders geduldig.«
Sie lächelt, und dabei sieht sie unwiderstehlich aus.
»Wie alt bist du?«, fragt sie mich übergangslos.
»49.«
»Dann sind wir fast gleich alt. Ich bin nur ein Jahr jünger.«
Sie setzt sich wieder und lässt gedankenverloren die Sahne über ihren Tee gleiten.
»Schon eigenartig«, meint sie. »Wir kommen aus der gleichen Generation, und unsere Mütter waren so unterschiedlich. Und doch haben sie uns zu etwas getrieben. Etwas, das nicht zu uns gepasst hat. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Warum hast du so früh geheiratet?«
»Ja, warum?«
Ich suche nach Worten. »Das ist im Nachhinein schwer zu erklären. Weil nun alles so klar ist und man es selbst kaum noch versteht. Aber damals erschien es mir als Lösung, als die einzige Lösung.
Ich war verliebt, und ich hätte sicher ohne Trauschein mit Reinhard zusammenleben können. Aber er wollte mich heiraten. Über diese frühe Ehe hat sich meine Mutter geärgert. Richtig aufgeregt. Zum ersten Mal hat sie heftig mit mir gestritten. Das hat mir gefallen. Ich fühlte mich wie eine Revolutionärin. Verrückt. Heutzutage weiß ich natürlich, warum meine Mutter so aufgebracht war. Ich wäre auch nicht erfreut gewesen, wenn Sandra so früh geheiratet hätte.«
Sandra. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich so früh zu binden. Habe ich es besser gemacht und ihr die nötige Zeit gelassen? Habe ich überhaupt etwas gelassen und nicht gelassen? Im Grunde habe ich nichts getan. Ich habe mich einfach nicht mehr in ihr Leben gemischt. Das ist alles. Ist sie deshalb nach Amerika gegangen?
»Nimmst du mich gleich mit nach Wilhelmshaven?«, reißt mich Tomke aus meinen Gedanken.
Es klingt nicht wie eine Frage.
»Ehrlich gesagt«, ich suche nach Worten, »ich nehme nicht gern Beifahrer mit, und seit dem Unfall schon gar nicht.«
»Quatsch«, schiebt Tomke ungerührt meine Bedenken beiseite. »Was soll schon passieren? Ich bin nicht abergläubisch.«
Ich muss lachen, denn ich würde jede Wette eingehen, dass Tomke sehr abergläubisch ist.
Graublaue Schichten gehen ineinander über. Manchmal in ein klares Weiß. Winterhimmel. Der Wind weht stürmisch, aber ungewöhnlich mild. Ich ziehe mir das Stirnband wieder herunter. Dabei haben wir morgen Anfang Dezember.
Tomke trägt einen schwarzen Hosenanzug. Die weiten Hosenbeine flattern. Die Jacke ist eng geschnitten. Darunter eine weiße Bluse mit einem riesigen Kragen. Ich muss an Prinz Eisenherz denken und wieder an meine Mutter.
Sie hatte eine
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