Frühstückspension: Kriminalroman
weiter.
»Die Wahrheit natürlich«, antwortet Tomke. Sie steht auf und stellt zwei Gläser und eine Flasche mit Wasser auf den Tisch.
»Die Wahrheit?«, wiederhole ich zweifelnd.
»Ja, die Wahrheit. Wir erzählen ihm, Gerold hat im Zuckerschock gekrampft. Er war allein. Draußen in der Garage. Dabei hat er sich schlimm verletzt. Wir haben davon nichts mitbekommen. Mir ist erst beim Schlafengehen aufgefallen, dass er nicht in seinem Bett lag. Es ist so spät geworden, weil wir uns festgequatscht hatten. Frauen eben! Verwirrt und erschrocken, wie wir waren, haben wir ihn erst einmal ins Fernsehzimmer geschleppt. Da war es schon lange zu spät.«
»Zuckerschock? Das ist doch total unglaubwürdig. Zuckerschock ist ein leichter Tod. Da verletzt man sich doch nicht?«
Tomkes Gesicht wird von einer Sekunde zur anderen so düster, als habe man in ihm alle Lichter gelöscht.
»Ein leichter Tod?«, wiederholt sie bitter. »Das habe ich auch gedacht, als ich ihm das Insulin gespritzt habe. Leider war das ein schwerer Irrtum.«
Tomkes Augen glänzen verdächtig. Betroffen weiche ich ihnen aus. Ich betrachte das Licht- und Schattenspiel des Teelichtes. Dann schaue ich aus dem Fenster. An der Scheibe laufen dicke Tropfen hinunter. Es regnet noch immer. Aber mein Blick landet schnell wieder in ihrem Gesicht.
Sie hat mich anscheinend die ganze Zeit angesehen und fragt nun: »Was denkst du?«
Ihre Augen strahlen wieder diese unwiderstehliche Kraft aus, und mir fallen keine Ausflüchte ein.
»Es kommt mir alles so unwirklich vor. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Was hat eine Frau wie dich so weit gebracht? Ich habe immer wieder den Zeitpunkt verpasst, etwas zu ändern. Aber du? Du bist ganz anders als ich. Du bist stark und tatkräftig. Warum bist du nicht gegangen oder hast ihn rausgeschmissen?«
Tomke fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. Es ist fast trocken. Im Kerzenschein funkeln einzelne Haare jetzt kupferrot.
»Ja, warum ich? Die patente Tomke! Die immer alles regelt!«
Sie lässt ihre Hände fallen, und ihre Arme hängen schlaff herunter, als habe sie mit dem letzten Satz all ihre Energie verbraucht.
»Ich habe es aber nicht geschafft.« Ihre Stimme zittert verdächtig.
»Tut mir leid«, lenke ich betroffen ein. »Du wirkst einfach so …«
Ich breche hilflos ab. Mir fallen nur starke Ausdrücke ein, und die passen im Augenblick ganz und gar nicht zu Tomke.
»Ist schon gut«, winkt die ab. »Ich bin es gewohnt, dass mich alle so einschätzen. Aber alles zu schaffen oder viel zu schaffen, bedeutet nicht, dass auch alles einfach ist. Als würde mir alles zufliegen. Die Gleichung geht nicht auf. Es kostet Energie. Viel Energie.«
»Ich weiß, was du meinst«, unterbreche ich sie und ignoriere ihren ungläubigen Blick. »Mir wird ständig vorgeworfen, zu langsam zu sein. Als könnte ich das ändern, wenn ich mich nur genügend anstrengen würde. Aber ich strenge mich schon an. Es ist eben meine Geschwindigkeit, und dafür brauche ich auch viel Energie.«
Über Tomkes Gesicht geht ein kleines Lächeln. »Schade, dass man diese Energie nicht in Einheiten messen kann. Dann hätte man mehr Verständnis füreinander.«
Sie hebt ihre Arme in die Waagerechte und zieht sie langsam erst nach rechts und dann nach links.
»Mach das auch mal!«, fordert sie mich auf. »Das entspannt.«
Ich wehre lächelnd ab.
»Aber du siehst müde aus. Soll ich das Fenster öffnen?«
»Das kannst du, aber lenk nicht ab. Ich weiß so wenig von dir.«
Tomke legt ihren Kopf schief und sieht mich an: »Du bist langsam, aber hartnäckig.«
»Stimmt.«
Sie steht auf und öffnet das Fenster. Sofort weht eine frische Brise durch das Zimmer. Das tut gut.
»Gerold war eine tickende Zeitbombe«, beginnt sie und schenkt sich den nächsten Tee ein. »Ich habe es auch zu spät bemerkt und nicht einmal geahnt, dass er über die Jahre so viel Hass angesammelt hat. Ich habe immer geglaubt, ihm alles zu geben, was nötig oder was möglich war. Fast 30 Jahre lang. Aber er hat uns gehasst. Vielleicht von Anfang an.«
11
Der Wind hat das Teelicht ausgeblasen, und Tomke schließt das Fenster wieder. Ich sehe sie abwartend an.
Aber sie fragt nur: »Soll ich noch einen Kaffee kochen?«
»Nein, Tomke. Erzähl. Von Anfang an.«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich möchte dich verstehen.«
Ich zögere und merke, wie ich rot werde: »Weil ich dich mag.«
Nun errötet Tomke, aber sie freut sich. Das sehe ich deutlich.
»Ich
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