Fuchserde
einen Mundvoll Schnaps in alle vier Himmelsrichtungen. Schon ihre Väter und Vorväter hatten es so gehalten, um der Natur ihren Respekt zu zeigen.
Auch den Kindern war die freundschaftliche Verbindung mit der Natur schon in Fleisch und Blut übergegangen. Sie schätzten all ihre Geschöpfe und hatten gelernt, sie als Lehrer zu achten. Sie fühlten sich wohl in ihrer Schule, die den Himmel als Dach hatte und der sie nie entwachsen würden, weil sie unendlich groß war – was schließlich auch notwendig war, um all den Weisheiten ausreichend Platz zu bieten.
Als Lois Geschichten über Waldviertler Hexen, Waldteufel, Nachtgeister und Teichmädchen erzählte, aus deren Schicksal, Treiben, Flüchen und Verwünschungen jeder seine eigene Lehre ziehen konnte, fragte Peter, woher Lois nur all diese Geschichten habe. Doch Peters Vater ließ keine Antwort zu: »Frag nicht«, sagte Luca, »diese Geschichten sind dreimal so alt wie Berg und Wald.« Die beiden Familienoberhäupter sahen einander verschwörerisch an und dann nickte Lois Luca zu. Schließlich sagte er in die Runde: »Ihr Jungen tut gut daran, euch auf die ewigen Wahrheiten in diesen uralten Geschichten zu besinnen. Das bringt euch den größten Nutzen für euren künftigen Weg.«
So spät es auch wurde, zwei schienen in dieser Nacht nicht müde zu werden. Auch als sich die anderen bereits gähnend zurückgezogen hatten, kamen sie nicht zur Ruhe. Etwas war mit Peter und Maria geschehen, etwas in ihnen hielt sie munter. Es war etwas Unbedingtes. Es war die erwachte Neugier nach Liebe. Peters Urgroßmutter, die sich am nächsten zum Feuer gebettet hatte und deren Schlaf des Nachts Pausen einlegte, hörte die beiden Jungen noch bis in die Morgenstunden miteinander flüstern und im flackernden Licht des Feuers schien es ihr, als ob sie mit jedem Ruf der Eule näher zusammenrückten.
Am nächsten Morgen brachen die Familien zusammen auf. Sie hatten beschlossen, bis auf weiteres gemeinsam ihr Glück zu versuchen. Schließlich könne Lois’ Familie ihren Wagen gleich neben dem Zelt aufstellen und an die Zirkusbesucher ihre Waren verscherbeln. Umgekehrt würden die Tandler womöglich zusätzliche Zirkusbesucher anlocken. Der tatsächlich entscheidende Grund aber, warum sie fortan ihre Spur gemeinsam durch diesen Sommer ziehen wollten, war, ohne dass es irgendjemand ausgesprochen hätte, dass Luca und Lois ineinander Seelenverwandte gefunden hatten.
Die Hoffnung, darüber hinaus voneinander zu profitieren, wurde bald enttäuscht. Besonders der Zirkus war so schlecht besucht wie noch nie. Luca beschloss daher, eine neue Attraktion anzupreisen, etwas, das die Leute einfach sehen mussten, etwas noch nie da Gewesenes. Etwas Nervenzerfetzendes. Nach langem Abwägen und Gesprächen mit seiner Frau Anna war es dann schließlich so weit: Es stand die Vorstellung bevor, während der Anna zum ersten Mal ihren Kopf in einen Löwenrachen stecken sollte.
Anna hatte Angst. Sie vertraute ihrem Mann. Dem Löwen aber vertraute sie nicht. Luca versicherte ihr, dass er das Tier im Griff habe, ja sogar seine Gedanken lesen könne. Anna müsse nur eines beachten, und das sei entscheidend: Sie müsse dem Löwen Gelassenheit und Stärke demonstrieren und nicht einmal einen Anflug von Angst zulassen. Dann würde das mächtige Tier Anna nicht als Opfer sehen, sondern sie als Herrin akzeptieren.
Als Lois vom Vorhaben der beiden erfuhr, fragte er Luca, ob er alleine mit dessen Frau sprechen dürfe. Er wisse einen Weg, versicherte er, um Anna jede Angst zu nehmen. Nachdem sich Luca die Prozedur von Lois beschreiben hatte lassen, willigte er ein. Noch mehr: Er bat Lois, auch seinen Sohn Peter zu unterrichten. Und so lehrte Lois Anna und Peter das Zeichen der Sonne.
Lois zeigte Anna, wie sie die Faust schließen und den Daumen zwischen Mittel- und Ringfinger fest einzwicken müsse. Er riet ihr, die Muskeln ihrer Hand anzuspannen, so lange und so fest, bis der stechende Schmerz ganz bei ihr sei. Wenn sie diesen Griff schon machen würde bevor sie in die Arena trat, würde ihre Hand zu einem sicheren und permanenten Fixpunkt. »Dann wirst du spüren«, sagte Lois bedächtig und nahm Annas Faust in seine Hände, »dass das Zeichen der Schlüssel ist, der Schlüssel, der das Schloss zur völligen Ruhe öffnet. So wirst du deine Angst besiegen. Restlos und vollständig. Unterstützen wird dich dabei das Wissen um meine geistige Begleitung. Ich werde die ganze Zeit über bei dir sein«,
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