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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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sagte Lois ohne auch nur einen Moment den Blickkontakt mit Anna zu verlieren. »Vergiss aber nicht, das Zeichen der Sonne muss in aller Ruhe und schon eine halbe Pfeifenlänge vor deinem Weg zum Löwen ausgeführt werden.« Lois atmete durch, entspannte seine Schultern und fuhr fort: »Wenn sich unsere Wege nach diesem Hitzling trennen, wird dein Sohn Peter meine Rolle einnehmen. Er ist stark genug und besitzt das natürliche Verständnis.« Lois wandte sich zu Peter. »Damit das Zeichen der Sonne sicher wirkt, musst du in die Gedanken deiner Mutter steigen. Geh ganz langsam und behutsam hinein, wie in das Bett eines ruhigen Flusses. Mit jedem Schritt wirst du deine Mutter stärker fühlen, so wie der Schwimmer das Prickeln des Wassers. Deine Mutter wird dich ebenfalls spüren, sie wird dich wahrnehmen, wie der Fluss den Schwimmer. Durch dieses gemeinsame Gefühl wird der Bann der Angst vollkommen sein. Es genügt, wenn ihr einander vor der Löwennummer fest in die Augen seht. Wenn ihr schließlich Übung habt und das Zeichen einige Male erfolgreich angewendet wurde, und erfolgreich wird es jedes Mal sein, das versichere ich euch, dann würde es sogar wirken, wenn ihr voneinander getrennt wärt und jeder an einem anderen Ende der Welt.«
     
    Eine Woche später war es so weit. Nach der Raubkatzendressur befahl Luca den immer wieder fauchenden und ihre Pranken hebenden Löwen, im Kreis auf ihren Podesten zu sitzen. Dann kündigte er, unterbrochen von Trommelwirbel, die neue Sensation des Zirkus Resulatti an, die Weltpremiere, den Höhepunkt des Abends: die Frau, die ihren Kopf tief in den Rachen eines mächtigen Löwen halten werde.
    Anna betrat unter Beifall die Manege. Sie winkte dem Publikum zu. Niemand bemerkte den sonderbaren Griff ihrer linken Faust. Sie strahlte in die Menge. Und dann schlüpfte sie zum ersten Mal in ihrem Leben in das Innere des drei Meter hohen Rundgitters, das die Zuschauer vor den Raubkatzen schützte. Luca empfing sie im Inneren der Arena. Gemeinsam gingen sie in die Mitte der Manege, wo der mächtigste Löwe des Zirkus auf einem niedrigen Podest saß. Als Anna in ihrem glitzernden Kostüm, mit dem Gesicht zum Publikum und seitwärts ausgestreckten Armen, dem Löwen den Rücken kehrte und dicht vor ihm niederkniete, war es so leise im Zelt, dass man nur noch das Schnauben der Löwen hörte.
    Ein letztes Mal brauste Trommelwirbel auf, und dann geschah es rascher, als alle erwartet hatten, dann warf Anna ihren Kopf nach hinten und der Kiefer des Löwen umfasste ihn bis zu ihren schmalen Schultern.
    In diesem Moment blieb für Anna die Zeit stehen. Alles in und um sie war still, war taub. Es war ihr, als sei sie in einen dunklen Trichter gefallen, als sei sie von einer alles lähmenden Spirale eingesogen worden. Nichts in ihr bewegte sich, konnte auch nicht, wollte auch nicht, dachte gar nicht daran, dachte an nichts. Nichts. Es war nichts. Endloses Nichts, ohne Zeit und Raum. Schwebend. Schwebend wie ein Körnchen Staub im Universum.
    Anna erwachte, als der Applaus über sie kam, als die Zuschauer wieder atmeten und ihre Anspannung durch Trampeln auf den Bretterboden entluden. Anna erwachte, als Luca sie bei der Hand nahm und küsste. Sie drehte sich um und sah in die ruhigen Augen eines Löwen.
     
    * * *
     
    Neben ihrer Sprache sowie geheimen Handzeichen kommunizieren die Fahrenden über Symbolzeichen miteinander. Dabei kann es sich um Erdklumpen, Stecken oder abgeknickte Zweige am Straßenrand handeln, die als Wegweiser dienen. Zur Nachrichtenübermittlung und um anderen Fahrenden geheime Hinweise, Warnungen und Ratschläge zu geben, werden sogenannte Zinken verwendet. Dabei handelt es sich um Symbole und Zeichen, die etwa in der Nähe von Hauseingängen angebracht werden. Mit einem ins Holz geschnitzten breiten »U« zum Beispiel rät man künftigen Vorbeikommenden, hier Rast zu machen. Eine Katzenabbildung bedeutet »hier wohnt eine weichherzige Frau« und ein mit der Spitze nach unten zeigendes Dreieck warnt vor verseuchtem Wasser.
     
    * * *
     
    Hab ich dir schon einmal die Geschichte vom Waldviertler Teichmädchen erzählt, mein kleiner, schlauer Fuchs? Hör gut zu, es ist eine sehr lehrreiche Geschichte, obgleich erst wenige klüger durch sie geworden sind.
    Tief drinnen, versteckt im Litschauer Wald, liegt ein dunkler, ein ganz besonderer Teich. In diesem Teich lebte ein Teichmädchen. Es war wunderschön. Ihr Körper war strahlend weiß, beinahe durchsichtig, wie die Lust. Ihre

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