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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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einmal den Menschen deiner Entsprechung triffst. Denn jeder sehnt sich danach, obgleich nicht jeder sich dessen bewusst ist.
    Wenn du den Menschen deiner Entsprechung triffst, siehst du dich in ihm in einem unbekannten Licht. Es zeigt dir mehr als nur dein Äußeres. Erstmals lässt es dich deine Gedanken begreifen, gibt es dir klaren Einblick in deine Seele, lässt dich erkennen, wie andere dich sehen. Es löst die Schatten um deine Gefühle auf, zeigt dir den Ursprung deiner Freude und deiner Angst, beleuchtet Ecken, die bisher im Dunkeln lagen. Wenn du tatsächlich das Geschenk bekommst, den Menschen deiner Entsprechung zu treffen, triffst du dich erstmals selbst. Und deinem Gegenüber geht es ebenso.
    Frida fragte mich damals nach dem Grund meiner plötzlichen Heiterkeit. Ich wusste nicht recht, was ich ihr antworten sollte. Alles was mir einfiel, war, Luca anzusehen. Und der antwortete für mich, indem er sagte: »Lois hat bemerkt, froh zu sein, mit sich und seinem Leben.« Deine Urgroßmutter verstand, denn sie war eine sehr kluge Frau.
     
    Aber nicht nur Luca und ich erlebten damals einen besonderen Hitzling. Unsere Tochter Maria und Peter, der Stolz der Resulattis, verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Anna wiederum, Lucas Frau, machte die Erfahrung, ihren Kopf in den Rachen eines Löwen zu stecken. Ja, du vermutest richtig, sie machte es ganz ruhig und sicher, weil ich ihr das Zeichen der Sonne beigebracht hatte. Das wirklich Spannende daran aber war nicht sie, sondern die Gedanken des Löwen. Luca hatte gelernt, den Geist der Tiere zu lesen. In jenen der Menschen einzudringen sei ihm auch gelungen, erzählte er mir, aber das habe ihn rasch an den Rand des Wahnsinns geführt, weil sich Menschen nie nur einem Gedanken hingeben. Ihr Geist springe nervös hin und her, gönne sich keine Rast, sei unentwegt in Bewegung, beschäftige sich gleichzeitig mit einem Dutzend von Nebensächlichkeiten, schichte Überlegungen unter- und übereinander, sortiere um, verwerfe. Kurzum, der menschliche Geist scheine nur eine Priorität zu kennen, nämlich das Chaos. Deshalb sei es kein Wunder, dass die Welt aussehe, wie sie aussehe. Wie gnadenlos selbstzerstörerisch auch sein eigener Geist sei, erzählte mir Luca mit echtem Entsetzen, das sei ihm erst bewusst geworden, als er in die Köpfe anderer Menschen Einblick genommen hatte.
    Der Geist der Tiere hingegen, sagte Luca ruhig, der sei einfach und ehrlich, sei klar und eindeutig, sei kein wildes Durcheinander, sondern ein geordnetes Hintereinander, und genüge sich selbst. Das allein mache es ihm erträglich, in ihn einzutauchen. Und das sei auch der Grund, warum Tiere wie selbstverständlich in sich ruhten, Menschen hingegen allzu oft außer sich seien.
     
    Der Löwe, den Luca für den Auftritt mit Anna ausgewählt und vorbereitet hatte, war das Oberhaupt des Rudels, das älteste und mächtigste Tier. Luca verriet mir, was der Löwe dachte, als er Annas Kopf mit seinem Kiefer umgab: Er dachte beinahe nichts. Und das war gut so. Er dachte nicht an Hunger. Er dachte nicht an Kampf. Er dachte auch nicht an Hass oder Angst, nicht an Herausforderung oder Demut, nicht an sein Rudel und nicht an Anna. Ganz sanft tauchte in ihm lediglich der Gedanke auf, dass es ganz angenehm war, einen warmen Menschenkopf im Maul zu haben. Als er knapp davor war, schlucken zu müssen, bekam er von Luca das Zeichen, Annas Kopf wieder frei zu geben. Also tat er es. Und dann schluckte er. Das Schlucken war schön.
     
    Sosehr die Nummer mit Anna und dem Löwen beklatscht und bejubelt wurde, letztlich kamen trotzdem immer weniger Zuschauer. Die Situation war bald so schlimm, dass Luca einige Tiere schlachten musste, um andere füttern zu können.
    »Es hat keinen Sinn mehr«, sagte Luca eines Abends resignierend zu mir, als wir fernab von den anderen unter einer Linde saßen und Pfeife rauchten. Ich spürte, dass Luca bereits aufgegeben hatte und dass er traurig und gebrochen war. Gleich darauf sagte er: »Wir werden den Zirkus aufgeben müssen. Ich und die anderen Männer werden versuchen, in Tirol Arbeit am Bau zu finden. Und die Frauen sollen Fetzen zusammennähen und hausieren gehen, so wie die Deinen es tun.« Und dann, mein kleiner, schlauer Fuchs, in dieser Niedergeschlagenheit, da sagte Luca etwas, das die Lebenslust von uns Fahrenden zeigt. Luca sah mich an und sagte: »Die Leute haben einfach kein Lowi mehr für den Zirkus. Sie kommen nicht, wenn meine Frau ihren hübschen Kopf

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