Fuchserde
Obwohl der Vorrat an getrockneten Schwammerln, Beeren und Kräutern nie groß genug sein konnte, ließ deine Urgroßmutter manch reife Himbeere am Strauch, manch prächtigen Steinpilz im feuchten Boden und manch heilendes Kraut weiter wachsen. Maria erzählte, dass ihre Mutter sie gelehrt hatte, mit den Pflanzen zu sprechen, um so herauszufinden, ob sie bereit wären, mitgenommen zu werden. Frida und unsere beiden Töchter schwebten in kreisrunden, tanzenden Bewegungen über den Pflanzen, berührten sie sanft im Vorübergleiten, stiegen elfengleich über sie, sangen, flüsterten mit ihnen und beteten im Stillen. Gewisse Wurzeln zogen sie ausschließlich bei Mondschein aus dem Boden. Manche Pflanzen wiederum nahmen sie nur, wenn noch der Morgentau an ihnen haftete. Du hast gut lächeln, mein kleiner, schlauer Fuchs, weil du als jüngster unserer Sippe von deiner Urgroßmutter in diese Geheimnisse bereits eingeweiht wurdest. Ich aber hatte nie die Ehre, den genauen Sinn ihrer Handlungen erklärt zu bekommen. Frida und meine Töchter sagten mir nur, dass alle Pflanzen gut zu den Menschen seien, sogar die giftigen. Dass sie Rat geben würden, wie mit ihnen umzugehen ist. Und dass man die Gewächse der Natur nie nehmen sollte, wenn sie einem davon abraten; ganz gleich, wie groß die Versuchung ist. Ich bin froh, mein kleiner, schlauer Fuchs, denn ich sehe in deinen Augen, dass auch du deine Handlungen mit großem Respekt gegenüber der Natur setzt. Frida hat selbst mir oft gepredigt, dass die Früchte des Waldes und des Moores ein großes Geschenk von Mutter Natur an die Menschen sind. »Nur gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen«, sagte sie gerne, wenn sie Kräuter kochte und sie anschließend zu Brei rieb, wenn sie Pflanzen trocknete und im steinernen Mörser stampfte, oder wenn sie sie hackte und mahlte. Während dieser Arbeiten sagte sie manchmal wie zu sich selbst: »Nur wenn du die Kräuter achtest und sie nach dem Pflücken richtig behandelst, erkennst du, welche Wunder in allen Dingen eingeschlossen sind.«
Während die Frauen also Holz sammelten oder Beeren, Schwammerl und Kräuter, ging ich mit den Buben auf Jagd. Wenn wir vom Glück geküsst wurden, und mit einem Reh nach Hause kamen, rächten wir uns an den Frauen – dann waren wir es, die unser Geheimnis nicht preisgaben, dann war es an uns, nicht zu verraten, wie wir das Tier ohne Schusswaffe erlegt hatten. Heinzi schwindelte etwa, dass wir auf Bäume geklettert waren und uns auf das Rudel Rehe fallen hätten lassen, als es unter uns durchlief. In Wirklichkeit hatten wir freilich an einem Rehpfad eine Drahtschlinge im Laub versteckt, aus der sich das Tier nicht mehr befreien konnte. Fische fingen wir mit selbst geschnitzten Angelruten oder mit Schlingen, die wir ins Wasser hielten und dann ruckartig nach oben zogen, wenn eine Forelle oder ein Karpfen hindurchschwamm. Stachlinge erwischten wir mit Fallen. Eichkatzerln schossen wir mit der Steinschleuder von den Bäumen und Wildschweine erlegten wir tatsächlich so, wie Heinzi es bei den Rehen vorgab: Wir sprangen ihnen mit einem scharfen Messer in der Hand aufs Kreuz. Am einfallsreichsten aber waren wir bei den Rebhendln. Sie waren besonders im Winter eine begehrte Beute, weil die anderen Tiere im Schnee schwer zu fangen waren. Beim Rebhendl war das anders. Es verlangte fast danach, im Schnee gefangen zu werden.
Weißt du noch, wie wir eines vor ein paar Wintern gefangen haben, kleiner, schlauer Fuchs? Wir haben uns zum Entsetzen deiner Urgroßmutter für ein paar Stunden ihr Ofenrohr ausgeborgt. Sie hat es erst bemerkt, als sie in aller Früh den Küchenofen angeheizt hat und der Rauch das ganze Zimmer verqualmt hat. Aber da waren wir ja schon weit genug weg. Kannst du dich erinnern? Wir haben das Ofenrohr auf den Boden gelegt und es rund herum mit weichem Schnee ganz fest eingegraben. Dann haben wir das Ofenrohr herausgezogen. Den Schneetunnel, der so entstanden ist, haben wir auf einer Seite verschlossen. Auf der anderen Seite haben wir kleine Brotstückchen vor das Loch gestreut und auch in den Tunnel hineingeworfen. Dann versteckten wir uns hinter einem Steinhaufen und legten uns auf die Lauer. Ich weiß noch ganz genau, so, als ob es gestern gewesen wäre, wie ich auf meine alten Tage im Schnee gefroren habe. Wir haben schon geglaubt, dass kein Rebhendl daherkommt, weil wir uns durch das laute Klappern unserer Zähne verraten. Aber es gibt schönes und es gibt furchtbares Frieren, mein kleiner
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