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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Pistolen in den Wohnwagen. Sie zerrten die Frauen und Mädchen, die nur mit Nachtkleidern aus grobem Leinen bekleidet waren, an den Haaren aus dem Wohnwagen. Sie rissen sie in den kalten, aufgewühlten Novembermatsch. Dabei fielen sie auf die toten SS-Männer. Ihre Glieder und ihre Leiber wurden von den Füßen der Männer mit Stiefeln getreten. Je mehr sie auszuweichen suchten und sich krümmten, desto mehr vermischte sich der Schlamm mit ihrem und dem Blut der toten SS-Männer. Erst jetzt bemerkte Anna ihren neben sich liegenden Mann Luca. In diesem Moment zersprang etwas in ihrem Herzen.
     
    Auch die anderen Wohnwagen der Sippe wurden gestürmt. Anna sah, wie SS-Männer mit Gewehrkolbenschlägen Peters Kopf bearbeiteten, sie sah, wie sie auf Barbara eindroschen und auf Fabio. Sie hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren. Auch der kräftige Fabio wehrte sich nicht, er war nackt. Sie prügelten auf alle ein, auf Männer, Frauen, Kinder und auch auf die ganz Alten, sie stießen alle nieder, in den Dreck.
    »Sollen wir sie gleich hier abknallen?«, schrie einer der Männer. Sein Kopf war rot und seine Lippen zitterten.
    »Nein«, sagte ein anderer und gab Barbara einen zweiten Tritt in die Seite, »das Gesindel soll sich lieber im Lager zu Tode rackern, das bringt mehr.«
    Also wurden sie in den geschlossenen Viehwagen gepfercht. Mit groben Schnüren wurden ihnen die Hände verknotet, die Füße verschnürt. Die Großmutter war die letzte, die Richtung Wagen gestoßen wurde. Dabei rutschte sie aus und schlug mit dem Kopf an die Ladeklappe des Transporters. Ihre seidene Haut platzte auf und dünnes Blut rann über ihr Gesicht. Es rann über ihren Hals und versickerte in ihrem geblümten Schlafgewand. Als die Großmutter taumelnd versuchte, auf die Ladefläche zu klettern, riss sie einer der SS-Männer an ihrem grauen, sorgfältig geflochtenen Zopf nach hinten. Sie stolperte. Sie fiel zu Boden. Dabei gab die im Stoffsaum eingenähte Tasche ihre Glaskugel frei. Sie plumpste heraus und blieb in der aufgedunsenen Erde stecken. Die Großmutter hörte, wie eine Schar Krähen kreischend über den Platz flog. Es müssen zwei Dutzend gewesen sein. In der Kugel der Großmutter spiegelte sich aber nur eine einzige Krähe. Eine einzige Krähe, die nach Osten flog.
    Großmutter schloss die Augen und dann schoss ihr der SS-Mann zwei Mal in die Brust. Gleich darauf wischte er sich die Handinnenseite an seiner Hose ab. Ganz schnell rieb er seine Hand am Hosenbein, auf und ab, auf und ab. Es schien ihn zu ekeln beim Gedanken, das Haar der Großmutter mit seiner bloßen Hand berührt zu haben.
    Im Viehwagen zitterten, weinten, schrien Menschen.
     
    Die SS-Männer ahnten nicht, dass sie mit der Ermordung von Luca und der Großmutter der ganzen Sippe das Rückgrat gebrochen hatten. Sie hatten ihnen das Oberhaupt und die Älteste genommen. Ihren Verstand und ihr Herz. Das Heute und das Morgen.
     
    * * *
     
    In der nationalsozialistischen Diktatur (1933-1945) wurden in den Konzentrationslagern anfangs politische Gegner inhaftiert. Ab 1935 unter der Herrschaft der Schutzstaffel (SS), einer der brutalsten Sonderformation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), wurden auch Menschen gefangen genommen, die aus rassistischen, religiösen oder sozialen Gründen zu »Volksschädlingen« erklärt wurden. Konkret waren das Juden, Sinti, Roma, Geistliche, Homosexuelle, geistig oder körperlich Behinderte sowie die Gruppe der »Arbeitsscheuen«, »Nichtwohnhaften«, »Kleinkriminellen« und »Asozialen«, zu denen auch die Jenischen gezählt wurden. Die Nationalsozialisten ordneten die Jenischen aufgrund ihrer zumeist hellen Hautfarbe sowie ihrer ungewissen Herkunft (keltisch, heimisch, von den Roma abstammend oder eine Mischung all dessen) nicht den Zigeunern zu. Daher gehörten die Jenischen nicht zu den von Anfang an systematisch Verfolgten. Allerdings galten die Jenischen als vogelfrei. So wurden sie willkürlich ihrer Freiheit beraubt, in Lager gesperrt, gequält, sterilisiert und ermordet.
    Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs starben etwa sechs Millionen Juden und zumindest fünfhunderttausend Menschen nichtjüdischer Herkunft in Konzentrations- und Vernichtungslagern durch Vergasen, Erschießungen, Überanstrengung bei der Zwangsarbeit oder durch Unterversorgung und Krankheit in der Gefangenschaft. Viele starben auch infolge von medizinischen Versuchen, die an ihnen durchgeführt wurden. Im März 1944 gab es

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