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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Rückgrat bewiesen, als sie damit nichts mehr gewinnen, aber viel verlieren konnten. Und dann gab es noch jene, und das war die Mehrzahl, die wussten nicht, wie ihnen geschah, als sie sich drehten wie der Hahn im Wind.
     
    In Amaliendorf war das nicht anders als überall sonst, und das, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung fahrenden Ursprungs war. Ja, mein kleiner, schlauer Fuchs: Einer Minderheit anzugehören schützt vor Dummheit nicht.
    Der Pfad, auf dem ich selbst meine Entscheidungen zu treffen und meine Handlungen zu setzen hatte, war so schmal, dass mir schwindelig wurde, sobald ich das Haus verließ. Ich wollte mir treu bleiben und Herz beweisen, wollte aber nicht blindlings damit ins Messer rennen. Du hast mich schon oft gefragt, warum viele von uns Jenischen noch heute nicht aus dem Haus gehen, warum viele von uns sich heute noch nicht den Mund aufzumachen trauen. Es ist ganz einfach, mein kleiner Fuchs: Sie wollen unsichtbar bleiben. Sie wollen sich nicht als Jenische preisgeben und verwundbar machen gegenüber den Gadsche, denen sie noch immer nicht trauen. Gleichzeitig wollen sie aber auch ihr Ureigenes nicht verraten, wollen ihr Jenisch-Sein nicht verraten, und haben es deshalb privatisiert.
    Damit wären wir wieder bei der Angst, mein kleiner, schlauer Fuchs: Die Nazis und ihre ideologischen Nachfahren haben es geschafft, dass wir heute noch Angst haben, wir Alten zumindest. Das ist auch der Grund, warum die Welt da draußen von uns noch immer nichts gehört hat. Ich hab dir ja schon gesagt: Angst beanstandet nichts, obwohl gerade sie so sehr Berechtigung dazu hätte.
     
    Die Einzige, die damals überhaupt keine Angst hatte, war deine Urgroßmutter Frida. Ihre Furchtlosigkeit strahlte auf uns alle ab. Zum Beispiel auf unsere Tochter Maria. Ich hab dir ja von Lucas Brief erzählt, in dem er uns den Tod seiner Sippe anvertraut hat, und damit auch den Tod von Marias versprochenem Mann, von Peter. Weißt du, wie Maria reagiert hat, als ich ihr von dem Brief erzählt habe? Sie hat sich alles angehört, ist dann barfuß auf und davon in den knöchelhoch verschneiten Wald gelaufen und kam erst eine Pfeifenlänge später wieder, als ich sie gerade suchen gehen wollte. Sie riss die Tür auf, fegte gemeinsam mit dem Eiswind in die Stube, wehte mit energischen, nackten Schritten auf mich zu, beugte sich über den Tisch, schlug mit ihrer Faust darauf, dass die dicke Holzplatte vibrierte und dann donnerte sie: »Peter wird kommen. Er wird kommen, sobald die Sonne stärker ist als der Schnee!«
     
    Ich schwöre dir, mein kleiner Fuchs: Ich war davor und auch danach nie wieder von etwas so überzeugt, wie in diesem Moment. In diesem Moment, als mir meine Tochter sagte, dass ihr Mann zu ihr kommen werde.

10.
    Der Viehwagen bog über eine morsche Brücke nach rechts ab. Eine Reihe von Holzbaracken tauchte auf, ein Schlagbaum hob sich und der Wagen rollte ins Lager Reichenau. Als Peter aus seiner Ohnmacht erwachte, musste er erbrechen. Ihm war schwindelig. Seine Haare waren blutverklebt und sein Schädel dröhnte so sehr, dass er sich wünschte, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Gleich darauf kippte er zur Seite. Doch nur ein Sekundenschlaf war ihm gegönnt. Er erwachte, als ein SS-Mann die Tür des Wagens aufriss und schrie: »Raus mit euch, ihr Schweine!«
    Sein Schwager Fabio half Peter aus dem Wagen. »Wie hoch ist der Zaun?«, flüsterte Peter auf Italienisch.
    »Zwei Meter Holzpfeiler«, sagte Fabio, nachdem er sich umgeblickt hatte, »darüber ein Meter Stacheldrahtzaun«.
    »Gut«, sagte Peter, dann gaben seine Knie nach und er fiel wieder in Ohnmacht.
     
    Sie wurden ins Büro gebracht. Ein Zivilist und ein junger Bursche in Halbuniform machten sich daran, die Personalien aufzunehmen.
    »Wer von euch Zigeuner Katzelmachern* ist der Anführer?«, fragte der Zivilist.
    Als niemand antwortete, sah sich Peter um. Noch immer drehte sich alles rund um ihn. »Wo ist Papa?«, fragte er.
    Je länger das Schweigen dauerte, desto langsamer drehte und bewegte sich das Zimmer, die Einrichtung und die Menschen rund um Peter. Als er die Welt endlich zum Stillstand gebracht hatte, sagte Peters Mutter Anna, ohne ihren starren Blick Richtung Fenster zu lösen: »Sie haben ihn umgebracht, Peter. Sie haben Papa umgebracht.«
    »Also kein Anführer«, sagte der Zivilist wie beiläufig und spitzte seinen Bleistift.
    Peter hielt seine Tränen zurück. Er richtete sich auf, sodass er gerade auf dem Sessel saß, sah den

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