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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Zivilisten mit festem Blick an und dann sagte er: »Ich bin das Familienoberhaupt.«
    Der Zivilist schürzte die Lippen, nickte nachdenklich, stand gemächlich auf und schlug Peter vier Mal ins Gesicht. Peter verzog keine Miene.
    »Ab sofort bin ich euer Familienoberhaupt!«, schrie der Zivilist. Er stolzierte wieder zu seinem Schreibtisch zurück. Im Umdrehen plärrte er: »Und ihr seid meine Würmer!«
    Daraufhin stand Anna auf. Sie schien völlig ruhig. Langsam erhob sie sich, griff ihrem Sohn zärtlich auf die Schulter, machte noch drei Schritte bis sie vor dem Zivilisten stand und stieß ihm Zeige- und Mittelfinger in die Augen. Der Zivilist schrie vor Schmerzen auf und der Bursche in Halbuniform brüllte nach den Männern in Uniform.
     
    Sie steckten Anna in die Arrestzelle, die sie Bunker nannten. Der Bunker war so klein, dass Anna sich darin nicht liegend ausstrecken konnte. Nur zum Stehen oder Sitzen reichte es. Die Zelle war kahl und kalt, der Boden betoniert. Fenster gab es keines, nur Luftschlitze oben und unten an der Tür, Anna war dankbar für diese Luftschlitze. Durch sie wirbelte der Wind Schneeflocken in die Zelle. Glitzernd weiche Schneeflocken, die Anna umtanzten, um sich dann an sie zu schmiegen und auf ihr, ganz langsam, zu schmelzen. Nach einer Woche waren Annas nackte Füße erfroren, Blasen hatten sich gebildet. In dieser Zeit passierte es, dass die Schneeflocken mit Anna zu sprechen begannen. Sie wirbelten um Annas kahlgeschorenen Kopf, zuckten im Luftzug lustig auf und ab, sprangen herum wie ausgelassene Kinder und sangen Anna ein Lied:
     
    Himmelan geht unsere Bahn,
    die Liebsten sehen sich wieder irgendwann.
    Denn wir sind Gäste nur auf Erden,
    bis wir einst nach Kanaan durch die Wüste kommen werden.
     
    In der zweiten Woche begannen Annas Zehen abzusterben.
     
    Der dreizehnjährige Giorgio wurde vom Zivilisten als alt und kräftig genug befunden, um mit den Männern Tag für Tag zu den Arbeitseinsätzen auszurücken. Barbara bat den Zivilisten, ihren Sohn bei ihr zu lassen und ihn gemeinsam mit den Frauen für den Küchen- und Lagerdienst einzusetzen. »Wieso?«, schnauzte der Zivilist sie an. »Zum Betteln und Herumtreiben war er ja auch schon alt genug.«
    Dann wurde allen eine Glatze geschoren; auch Barbara, der zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr Zopf abgeschnitten wurde, der zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr Stolz genommen wurde, und die Haare rasiert bis zur Kopfhaut.
     
    Die Männer in der Baracke Nummer achtzehn wurden morgens um fünf Uhr geweckt und in die Waschräume getrieben. Wenige Minuten später hieß es »Anziehen!«. Die meisten Gefangenen wickelten sich Fetzen um die Füße. Denn Kleidung hatten sie nicht bekommen. Jeder hatte das Gewand an, in dem er ins Lager gebracht worden war, oder das, was ihm andere Häftlinge gegeben hatten. Als Schuhwerk waren Holländer verteilt worden, einfache Holzpantoffeln. Es gab Eichelkaffee und eine Scheibe trockenes Brot. Gleich darauf folgte der Morgenappell. Aufgerufen wurden die Gefangenen nicht mit ihren Namen, sondern mit Nummern. Peter war Nummer 4189, sein Schwager Fabio 4190 und der kleine Giorgio war Nummer 4191.
    Als alle sechzig Männer des Arbeitstrupps durchgezählt waren, marschierten sie ab Richtung Inn. Sie sollten aus dem Fluss Kies abbauen. Drei SS-Männer bewachten sie. Bewaffnet waren sie mit Sturmgewehren. Und mit Peitschen, von denen sie ausgiebig Gebrauch machten, etwa wenn sie meinten, ein Gefangener würde zu wenig hart arbeiten, oder einfach dann, wenn ihnen langweilig war. Nach einer Woche Arbeitseinsatz war Giorgio krank, abgemagert und sein Körper von Peitschenspuren gezeichnet. Sein Vater Fabio war tot. Ein SS-Mann hatte ihm in den Kopf geschossen, als Fabio brüllend auf ihn losgerannt war, nachdem der Wachmann seinen Sohn wieder einmal mit der Peitsche malträtiert hatte.
    Als Giorgio Lungenentzündung bekam, befand der Zivilist, dass der Bub nun nicht mehr stark genug sei für die Arbeitseinsätze.
     
    Am Abend lag Giorgio in Peters Armen. Die Wachleute hatten sie nach ihrem zwölfstündigen Arbeitseinsatz gemeinsam mit den anderen Gefangenen wie immer um neunzehn Uhr in der Baracke eingesperrt und die massiven Fensterläden fest von außen verriegelt, damit auch nicht der dünnste Strahl Leben in die Unterkünfte fallen konnte, weder Sonnenlicht noch Mondschein.
    »Peter?«
    »Ja, Giorgio?«
    »Weißt du noch, als wir im Hitzling alle gemeinsam am Funk gesessen sind und dein Papa, Onkel Luca,

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