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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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hat uns vom Paradies erzählt?«
    »Ja, Giorgio, ich kann mich erinnern.«
    »Onkel Luca hat damals gesagt, dass das Paradies oft um uns ist, wir es aber nicht sehen, weil wir unsere Augen nicht öffnen.«
    »Ja, das hat er gesagt.«
    »Aber jetzt, Peter. Jetzt ist kein Paradies. Auch nicht, wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Oder?«
    »Nein, Giorgio.«
    »Glaubst du Peter, glaubst du, dass wir irgendwann einmal wieder ins Paradies kommen? Glaubst du, Peter?«
    Peter atmete tief durch. Er drückte Giorgio an sich und streichelte ihm über seine nasse, heiße Stirn.
    »Ich kann dir etwas versprechen, Giorgio«, sagte Peter. »Du wirst bald wieder im Paradies sein dürfen. Du wirst mit deinem Papa und Oma und all deinen anderen Lieben um den Funk sitzen und hinauf zu den funkelnden Sternen schauen. Du wirst den Schrei der Eule hören und den Duft des Feuers einatmen. Ihr werdet ein Festtagsmahl zubereiten, zu dem ihr deine Mama, meine Mama und auch mich einladen werdet. Und wir werden eurer Einladung gerne folgen. Auch wir werden zu euch kommen. Dann werden wir alle wieder vereint sein und alles wird gut sein. Und wir werden feiern und glücklich sein im Paradies.«
    »Ja«, seufzte Giorgio erleichtert.
    »Ja, Giorgio«, flüsterte Peter. Er drehte sich mit Giorgio im Arm auf ihrem Strohsack zur Seite, sodass sie nun verschlungen nebeneinander lagen. Dann sagte er: »Möchtest du, dass wir gemeinsam zum großen Geist beten, Giorgio?«
    Giorgio nickte. »Mhm.«
    »Gut. Sprich mir also nach«, sagte Peter.
    Und dann sprachen sie hintereinander, Satz für Satz, zuerst Peter, dann Giorgio, leise und langsam ihr Gebet:
    » Oh großer Geist, dessen Stimme ich im Wind höre und dessen Atem der Welt das Lehen gab, höre mich.
    Ich komme zu dir als eines deiner vielen Kinder.
    Ich bin klein und schwach.
    Ich brauche deine Kraft und deine Weisheit.
    Möge ich in Schönheit gehen, um das zu verstehen. Lass meine Augen immer den roten und purpurnen Sonnenuntergang bewahren.
    Lass meine Hände die Dinge, die du gemacht hast, respektieren und öffne meine Ohren, um deine Stimme zu hören.
    Mache mich weise, damit ich verstehe, was du deine Kinder gelehrt hast.
    Damit ich die Lehren, die in jedem Blatt und in jedem Stein verborgen sind, verstehe.
    Mache mich stark, nicht um meinen Bruder zu
    beherrschen, sondern um meinen größten Feind zu bekämpfen, mich selbst.
    Lass mich bereit sein, um mit offenem Blick vor dich zu treten.
    Wenn das Leben sich neigt wie die untergehende Sonne, möge meine Seele ohne Schande zu dir kommen.«
     
    »Wenn das Leben sich neigt wie die untergehende Sonne, möge meine Seele ohne Schande zu dir kommen«, wiederholte der kleine Giorgio.
    »Gut«, sagte Peter.
    »Gut«, sagte Giorgio.
     
    Am nächsten Tag beim Morgenappell brach Giorgio zusammen. Der Zivilist befand, dass es nun an der Zeit sei, ihn in die Krankenstation zu bringen.
    An diesem Tag gingen wieder Fliegerbomben auf Innsbruck nieder. Peter und die anderen Zwangsarbeiter hörten die Bomber kommen, als sie noch weit weg waren. Während sich die SS-Männer beim dröhnenden Herannahen der Flugzeuge instinktiv zusammenstellten und ihre Schultern hoben, als würden sie frösteln, empfanden Peter und die anderen das Motorengeräusch am Himmel als befreiend. Und wenn sie dann die Bomben aufschlagen hörten, überkam sie ein Gefühl, als würden ihre Fäuste tief in die Gesichter der SS-Wachen fahren.
    In der Viertelstunde Mittagspause gab es dann wie immer einen Topf dünne Suppe. Diesmal nicht mit gekochten Steckrüben, sondern mit gekochten Erdäpfeln. Die Männer hatten ihr Essen fast hinuntergeschlungen, da bog ein offener Lkw um die Kurve. Auf der Ladefläche standen im eisigen Fahrtwind zitternde, kahlköpfige Menschen. Lagerinsassen. Die Entschärfungstruppe für die Blindgänger. »Das Himmelfahrtskommando«, wie es die SS-Wachen mit einem kalten, schadenfrohen Grinsen nannten, wenn sie Häftlinge für diese Arbeit auswählten. Meistens traf es Juden und politische Gefangene.
    Peter beobachtete den näher kommenden Lkw. Die Häftlinge standen dicht an dicht gedrängt auf dem Wagen. Niemand schien zu reden. Die meisten ließen matt den Kopf hängen. Plötzlich hob sich eine Hand in der Menge. Eine Hand, die winkte. Peter konzentrierte seinen Blick auf das Gesicht des Häftlings. Zuerst glaubte er, es nicht zu erkennen. Erst als der Wagen dicht an ihnen vorbeifuhr, sah er seine Mutter: Anna winkte ihm zu. Sie stand ganz außen, hielt sich

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