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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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mit einer Hand an der Bretterwand des Lkw und winkte ihrem Sohn mit der anderen zu. Ihr Gesicht war eingefallen, ihre Augen dunkel als wären sie ins Nichts gerutscht. Aber ihr Mund, ihr Mund lächelte. Anna lächelte ihrem Sohn zu. Sie freute sich, ihn zu sehen, ihn zum ersten Mal nach zwei Wochen Bunkerhaft wieder zu sehen. Er lebte. Peter lebte. Anna winkte. Sie winkte ihrem Sohn so heftig und lebendig zu, als würde sie einen netten Ausflug ins Grüne machen, als gäbe es etwas zu feiern. Der Wagen entfernte sich. Peter hob seinen Arm.
     
    Peter konzentrierte sich. Er war im Geiste ganz bei ihr. Er war bei seiner Mutter. Er war bei der Frau, die keine Angst gehabt hatte, wenn sie während der Zirkusvorstellung ihren Kopf in den Rachen des Löwen steckte. Er sandte ihr Kraft, Mut und Gelassenheit.
    In den folgenden Stunden vernahm Peter sieben Detonationen. Sieben Blindgänger waren beim Versuch, sie wegzubringen, explodiert.
    Als der Wagen zurückkam und an den Zwangsarbeitern vorbeirollte, bot sich für die am Fluss Arbeitenden dasselbe Bild: Die Häftlinge standen dich an dicht auf der Ladefläche. Kraftlos ließen sie ihre Köpfe hängen und niemand sprach ein Wort. Peter reckte seinen Hals. Sein Blick durchkämmte die Menschen auf der Ladefläche. Der Wagen fuhr nun dicht an ihm vorbei. Peters Herz schlug wie wild. Peter schrie: »Mama!« Aus der Menge hob sich keine Hand.
     
    Nach dem Marsch zurück ins Lager wurden alle Männer außer Peter in den Waschraum geschickt und dann wie immer in ihre Baracke gesperrt.
    »Du bekommst heute eine Sonderbehandlung, Nummer 4189«, sagte der Zivilist zu Peter, der von zwei Wachmännern an den Armen festgehalten wurde. »Ich habe gehört«, fuhr der Zivilist fort und bemühte sich, das »R« rollen zu lassen wie Hitler in seinen Ansprachen, »ich habe gehört, dass du heute den ganzen Nachmittag nur geträumt hast. Das werde ich dir austreiben! Ab mit ihm zum Kaltbaden!«, befahl er und streckte seinen Arm aus Richtung Ausgang.
    Die beiden SS-Männer führten Peter in den verschneiten Hof. Dort musste er sich nackt ausziehen. Dann bespritzten die Wachen ihn aus einem dicken Schlauch mit eiskaltem Wasser und hatten Spaß daran, besonders auf seine Genitalien zu zielen. Peter krümmte sich nicht, wie es viele vor ihm getan hatten, die dieser Tortur ausgesetzt worden waren. Er stand mit dem Rücken zur Barackenwand, hatte die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt und versuchte, seine Genitalien mit den Händen zu schützen. Vielleicht weil Peter seinen Schmerz nicht zeigte, verloren die beiden SS-Männer bald das Interesse an ihm.
    »Hören wir auf und gehen rein«, sagte der eine. »Ist ohnehin viel zu kalt hier draußen.«
    »Gut«, antwortete der andere. »Sperren wir die nasse Sau in den Stall.«
    Sie traten Peter in den Bunker.
    Peter wusste, dass er sterben würde, wenn er sich nun auf den Betonboden setzte. Mit raschen Handbewegungen rieb er sich das Wasser vom Leib und dann begann er, auf der Stelle zu laufen. Rasch beugte er seine Knie, schlug mit den Armen auf seinen Körper, bewegte die Finger, schnitt Grimassen. Nach etwa einer Stunde ermüdete er zusehends. Also begann er zu beten und hörte dabei nicht auf, von einem Bein auf das andere zu steigen und mit den Armen seine Brust, seine Schenkel, seine Waden, sein Gesäß und seinen Rücken zu reiben. Er sprach das Gebet, das ihn seine Mutter gelehrt hatte, als er noch ein Kleinkind gewesen war. Er sprach das Gebet an Mutter Erde. Aufgrund seiner schnellen Körperbewegungen sprach er es so rasch wie noch nie. Und er sprach es so oft hintereinander wie noch nie. Am Morgen sollte er es etliche hundert Mal gebetet haben:
    » Du Ernährerin all deiner Kinder, mache mich hörend für deine Lehren.
    Öffne meine Augen, um all deine Wahrheit zu sehen und daraus zu lernen.
    Öffne mein Herz, um deine allumfassende Liebe zu empfangen.
    Gib mir die Kraft, deine alles heilende Liebe deinen Kindern weiter zu schenken.
    Weise mir den Weg zu all deinen Geheimnissen.
    Und lasse deine heilenden Kräfte mich heilen und durch meine Hände wirken.«
     
    Als das erste diffuse Licht der aufgehenden Sonne durch die Türschlitze in die Arrestzelle fiel, wusste Peter, dass er überleben würde. Und dann bemerkte er die Buchstaben im unteren linken Winkel der Zelle, gleich neben der Tür. Die Zeilen waren offenbar mit einem Finger geschrieben worden und die Schrift war aus Blut. Als er begriffen hatte, weinte Peter. Seine Mutter hatte

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