Fuchserde
ihm eine Nachricht hinterlassen: »Wenn du nicht mehr weißt, wohin du sollst, erinnere dich, woher du kommst.«
Peter las zuerst nicht den Inhalt der Botschaft. Er las nur die traurige Liebe darin. Und das machte ihn weinen. Das ließ all die Tränen aus ihm stürzen, die er so lange in sich gesperrt hatte. Die Tränen, in denen sich das Leid und der Schmerz seiner Familie widerspiegelte. Die Tränen, die er zurückgehalten hatte, weil sie heilig waren und niemanden etwas angingen außer ihn und die Seinen. Nun befreite er sich von ihnen, restlos und ganz.
Und dann las er noch einmal die Nachricht seiner Mutter. Nun waren die Zeilen frei von seinem Kummer. Und deshalb erkannte er diesmal, was die Botschaft bedeutete:
»Wenn du nicht mehr weißt, wohin du sollst, erinnere dich, woher du kommst.«
Peter hatte bisher nicht an Flucht gedacht, weil er das Familienoberhaupt war. Er hatte sich verantwortlich gefühlt und wollte seine Leute nicht im Stich lassen. Doch nun war das anders: »Jetzt gibt es nur noch Barbara und mich«, dachte Peter, »um sie muss ich mich noch kümmern.« An einem der nächsten Abende, gleich wenn er und die anderen Männer nach dem Arbeitseinsatz ins Lager kämen, wollte er es riskieren: Dann wollte er sich zur Baracke schleichen, in der seine Tante Barbara ihren Küchendienst versah, und mit ihr die Flucht besprechen. Er würde Barbara Springwurzeln mitbringen, die er heimlich sammeln würde. Barbara müsste die Wurzeln dann ins Essen der Wachmannschaft mischen. Wenig später würden sich die SS-Männer aus allen Öffnungen entleeren. Denn, wie hatte es Peters Urgroßmutter immer so treffend formuliert: »Die Springwurzel öffnet jedes Schloss.« Ja, und letztlich würde die Springwurzel auch das Schloss ihres Gefängnisses öffnen, hoffte Peter. Denn wenn die Wachleute mit sich und ihren überschäumenden Magensäften beschäftigt wären, könnten Barbara und er – und sicher auch viele andere Gefangene – aus dem Lager fliehen.
Doch es kam nicht so weit. Und das lag daran, dass Peter das Interesse des Zivilisten geweckt hatte, weil er nach dem »Kaltbaden« nicht krepiert war. Peter war nicht einmal erkrankt, so wie all die anderen, die nach dieser Tortur an Lungenentzündung gestorben waren. Jetzt wollte es der Zivilist wissen. Jetzt wollte er herausfinden, was dran war an dem Gerede im Volk, dass diese Jenischen so widerstandsfähig seien gegen Kälte und Schmerz. Von entsprechenden wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der Rassenlehre hatte er schon gehört. Womöglich würde er ja noch berühmt werden, dachte der Zivilist.
Noch am selben Tag ließ er Peter vom Lagerarzt gründlich untersuchen und dessen Tante Barbara ließ er zu Testzwecken ebenfalls »Kaltbaden« und über Nacht in den »Bunker« stecken.
Das Experiment des Zivilisten führte zum vorläufigen Ergebnis, dass Peter, wie praktisch alle anderen Insassen des Lagers auch, unterernährt war. Aber das sei kaum der Rede wert, versicherte der Lagerarzt dem Zivilisten. Gut, der Gefangene habe auch leichte Erfrierungserscheinungen an den Füßen und Anzeichen einer vor längerem erlittenen Gehirnerschütterung samt den dazugehörigen Schwellungen und Blutergüssen. Aber davon und den leicht eiternden Peitschensträhnen abgesehen, bestätigte der Lagerarzt dem darob zufrie denen Zivilisten, sei der Häftling 4189 überraschend gesund. Bei Barbara allerdings musste der Lagerarzt am Morgen nach dem »Kaltbaden« und der »Bunkerhaft«, so Leid es ihm auch täte, Herzstillstand feststellen. Der Zivilist war enttäuscht.
* * *
1941 wurde am östlichen Stadtrand von Innsbruck das »Auffang- und Arbeitserziehungslager« Reichenau in Betrieb genommen. Konzipiert als strenges Erziehungslager für »Elemente mit mangelnder Arbeitsmoral«, entwickelte sich das Lager bald zu einem multifunktionalen KZ der Gestapo. Gefangene des Lagers waren Juden, Priester, politische Häftlinge, italienische Gastarbeiter, die daran gehindert wurden, in ihre Heimat zurückzukehren und Menschen, denen von Unternehmern oder Behörden zu laxe Arbeitsmoral vorgeworfen wurde – unter ihnen viele Jenische. Obwohl die Haft offiziell höchstens acht Wochen dauern sollte, wurden viele Häftlinge mehrere Monate, mitunter bis zu einem Jahr, festgehalten. Das Lager war durchschnittlich mit vierhundert bis sechshundert Gefangenen belegt. Die Gesamtzahl der Häftlinge betrug zumindest achttausendsechshundert. Hunderte Häftlinge
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