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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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keine einzige Hütte verschont. Alle hatten sie niedergebrannt. Alle Hütten von Fridas Geschwistern. Und auch die beiden Hütten unserer ältesten Kinder und von deren Familien. Nichts war mehr übrig. Nichts, außer Erinnerungen. Erinnerungen, die in mich fuhren und die kälter waren als Schnee, und heißer als Feuer.
    Ich muss die Zeit übersehen haben, denn plötzlich schreckte mich das Bellen eines Hundes auf. Instinktiv duckte ich mich, aber es war niemand zu sehen. Das Bellen kam von weiter weg, es kam aus der Richtung des Wirtshauses. Die umliegenden Häuser blieben im Dunkeln, nirgendwo brannte Licht. Ich erhob mich und lief über den Hügel. Ich lief, als würde ich es noch nicht wissen, als sei ich nicht sicher, ob die Nazis auch unser Haus niedergebrannt hatten. Erst als ich über die Kuppe kam und sah, dass es auch unser Haus nicht mehr gab, begann ich zu verstehen. Deshalb musste ich weinen. Ich weinte nicht um unseren Besitz, ich weinte auch nicht um das, was wir verloren hatten. Ich weinte um unsere Zukunft.
    Wie sollten wir uns hier jemals wieder ein Quartier für den Biberling bauen, hier, umgeben von Nazis und gemeinen Menschen. Wie sollten wir woanders hin, wo es doch überall genauso sein würde. Wie sollten wir jemals wieder auf Reise gehen, wo das »Herumzigeunern«, wie es die Gadsche verächtlich nannten, uns doch als »asoziales, arbeitsscheues Gesindel« verraten würde. Weißt du, mein kleiner, schlauer Fuchs: Die Nazis hatten damals nicht nur den größten Teil unserer Sippe verschleppt und uns unser Haus genommen. Sie hatten uns auch jeden Mut für das Morgen genommen.
    Was mich in diesem Moment rettete, war die Liebe zu den Meinen. Ich richtete mich wieder auf und marschierte quer übers Feld, schnurstracks auf den abseits vom Hof gelegenen Erdäpfelschuppen unseres Nachbarn zu. Ich zog die Strohballen zur Seite, die er zum Schutz vor dem Frost davor gestapelt hatte, kippte den Riegel um, trat ein und füllte meine beiden Rucksäcke bis oben hin mit Erdäpfeln. Vor Wut machte ich es wie die Gadsche: Ich war so gierig, dass ich die Riemen beinahe nicht mehr zubekam und unter der Last der Rucksäcke schwankte. Der Rucksack vor meiner Brust war so prall gefüllt, dass ich beim Auf-den-Boden-Schauen meine Füße nicht mehr sehen konnte. Erst als ich wegen der schweren Last und meinem riesigen Erdäpfelbauch beim Hinausgehen stolperte und hinfiel, kam ich wieder zur Besinnung. Ich leerte ein Drittel der Erdäpfel wieder aus, sperrte die Holztür hinter mir zu, stapelte die Ballen übereinander, so wie ich sie vorgefunden hatte, drehte mich um, und da stand der Bauer vor mir und hielt mir seine Mistgabel direkt vors Gesicht. Wir schreckten uns beide. »Ah, du bist es«, sagte er und ließ die Mistgabel zu Boden sinken.
    Gerhard war ein anständiger Kerl. Das hatte ich immer schon gedacht, aber jetzt hatte ich Sicherheit. Gerhard war der Beweis, dass nicht immer der Standort die Sichtweise bestimmt. In dem Moment, als er die Mistgabel zu Boden senkte, säte dieser Bauer, säte dieser Gadscho, eine zu jener Zeit allzu seltene Pflanze: Er säte Hoffnung. Es gibt nicht viele Menschen wie ihn, mein kleiner, schlauer Fuchs, aber das Wichtige ist: Es gibt sie; Menschen, die die Größe haben, weiter zu sehen. Über den Horizont hinaus.
    Gerhard erzählte mir, dass die Gestapo alle unsere Leute weggebracht hatte, in irgendwelche Konzentrationslager. Wohin wisse niemand, auch nicht der Bürgermeister oder der NSDAP-Ortsgruppenleiter. »Aber lang kann der Wahnsinn nicht mehr dauern«, hat Gerhard dann gemeint, weil der Hitler verliere jede Schlacht und die Russen würden immer näher kommen. Bis zum Frühjahr müssten wir noch durchhalten, hat Gerhard gemeint. Und dann hat er mir angeboten, bei der Kapelle einen Maibaum aufzustellen, sobald die Luft rein sei und der Spuk vorbei.
    Den Maibaum werde er aufstellen als Zeichen für uns. Wenn an seiner Spitze eine Fahne wehen würde, irgendeine, nur ja nicht die Hakenkreuzfahne, dann könnten wir aus unserem Versteck kommen. »Und erzähl mir ja nicht, wo ihr seid«, hat er dann gesagt, »ich will es gar nicht wissen«, setzte er nach. »Ich hab dich auch nicht gesehen. So, und jetzt schleich dich«, hat er geflüstert, »schau, dass du weiter kommst mit deinen Erdäpfeln.«
    Kannst du verstehen, mein kleiner, schlauer Fuchs, dass das die wärmsten Worte waren, die ich mir erträumen konnte. Ich habe danke gesagt zu Gerhard, hab ihm freundschaftlich auf den

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