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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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seinen Beinen abfedern und sicherheitshalber abrollen. Er durfte sich nicht verletzen. Nur ja nicht verletzen, sonst wäre alles vorbei.
    Peter wand sich im Schlaf. Als er aufwachte, beherrschten zehn Bewegungen seine Gedanken: Springen, Raufziehen, Nachschwingen, Greifen, Schwingen, Abstoßen, Drehen im Flug, Abfedern, Abrollen. Und: Rennen.
     
    Der fette SS-Mann sah auf seine Stoppuhr: »Das gibt’s doch nicht. Zwei Minuten, dreißig Sekunden«, sagte er. »Wenn der Krüppel bei Punkt drei Minuten nicht wieder hinter der Neuner-Baracke auftaucht, schlag ich ihm eigenhändig das Kreuz ab.«
    Die beiden Wachmänner standen eng beieinander. Sie starrten auf die Stoppuhr und schielten immer wieder zur Ecke der Baracke Nummer Neun. Doch Peter kam nicht.
    »Drei Minuten«, sagte der Dicke.
    »Der will uns echt verarschen«, sagte der kleine SS-ler und strich mit der Faust nachdenklich über sein Bärtchen.
     
    »Drei Minuten, dreißig Sekunden. Jetzt reicht es«, sagte der Dicke.
    »Stimmt«, sagte der mit dem Bärtchen.
    Sie ließen ihre Hunde von den Leinen.
    »Fass, Hasso«, schrie der Dicke.
    »Fass, Rolf«, schrie der mit dem Bärtchen. »Lauf!«
    Die beiden Schäferhunde rannten los.
     
    Mit hochgezogenen Augenbrauen und nach vorn gestrecktem Kinn erwarteten die beiden SS-Männer die ersten Schmerzensschreie des Häftlings Nummer 4189. Sie warteten auf das Geräusch von zerreißendem Gewand und darauf, dass der Häftling sie am Boden kriechend anflehte, die Hunde zurückzupfeifen – so wie es schon viele hier getan hatten, hier im Lager Reichenau. Da wetzten Hasso und Rolf um die Ecke der Baracke Nummer Neun und schienen überrascht, den Gejagten nicht bei ihren Herrchen anzutreffen. Die beiden SS-Männer gafften einander mit offenen Mündern an. Sekunden vergingen. Der dicke Wachmann begriff zuerst. »Scheiße«, zischte er laut.
    Als der kleine SS-Mann »Alarm« schrie, hatte Peter schon die Mitte des Feldes erreicht, das östlich der Haftanstalt lag. Er rannte um sein Leben. Seine Füße durchpflügten die offene Erde des Feldes, seine Arme ruderten hastig und hielten seinen angespannten Körper in rhythmischem Gleichgewicht. Sein Atem dampfte in der morgenfeuchten Luft.
    Kurz darauf feuerten vier Lagerwachen aus ihren Sturmgewehren auf Peter. Peter hörte die Schüsse. Er überlegte, ob er Zickzack rennen sollte. Doch er entschied sich, auf schnellstem Weg gerade weiter zu laufen. Er glaubte sich schon weit genug entfernt vom Lager. Eine Kugel fuhr in seinen Oberschenkel. Eine andere streifte seinen Arm. Zwei Feuerwerke in seinem Fleisch, heiß und brennend. Der Schock befahl Peter niederzufallen. Doch irgendetwas hielt ihn aufrecht. Irgendetwas trieb ihn an. Peter war jetzt wie in Trance. Seine Gedanken waren bei seiner Familie. Sie alle würden ihn in diesem Moment beobachten, ihm zusehen aus der Anderswelt, wie er, der Letzte der Sippe, um sein Leben lief. Und da spürte er plötzlich eine neue Kraft und er rannte noch schneller.
    »Knallt ihn endlich ab«, tobte der Zivilist.
     
    Die Schüsse hörten auf, als Peter in den Wald eintauchte. Sekunden später hörte er, dass sie die beiden Hunde losgelassen hatten. Die Wachen würden ihn nicht mehr einholen, überlegte Peter. Aber die Hunde, die Hunde waren gefährlich. Peter verlangsamte seinen Lauf. Die Hunde, dachte Peter, was tue ich mit den Hunden? Verstecken kann ich mich nicht. Sie werden mich wittern, ich blute. Ich darf mich nicht zu lange mit ihnen aufhalten, sonst holen mich die Wachen ein. Er hörte die beiden Schäferhunde bellend näher kommen. Peter verlangsamte weiter seinen Lauf. Er wollte, dass sich sein Puls beruhigt. Er wollte ganz ruhig sein, wenn die Hunde ihn erreicht haben würden. Ihr Bellen kam immer näher. Als er sie hinter sich spürte, blieb Peter stehen und drehte sich um. Er sah sie jetzt. Und auch die Hunde hatten ihn bereits visiert. Sie rannten, gehässig bellend, wild keuchend auf ihn zu. Und dann tat Peter das, was er schon bei den Löwen getan hatte. Er tat das, was ihn sein Vater gelehrt hatte, bevor er ihm zum ersten Mal erlaubt hatte, den Löwenkäfig zu betreten. Ja, sein Vater war es gewesen, der ihm beigebracht hatte, dass es nicht darauf ankommt, stärker zu sein als die Löwen, dass es auch sinnlos ist, sie mit Drohungen oder Gewalt niederzuhalten: »Lass sie spüren, dass du nicht ihr Opfer bist«, hatte Luca zu Peter gesagt, »lass sie fühlen, dass du ihr Herr bist. Denn Tiere wie Menschen merken, ob du

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