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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Landbevölkerung mischen zu können. Sie hatten beschlossen, ihre traditionelle Lebensart abzuschütteln. Sie und ihre Kinder sollten nicht mehr Karner geschimpft werden, Gesindel, Hausiererpack und dreckige Korber. Sie wollten endlich Ruhe haben von den Behörden, die sie schon schief ansahen, wenn sie nur ihre Abstammung ahnten. Und schon gar nicht wollten die Jenischen noch einmal um ihr Leben zittern müssen und um Verwandte weinen, die ihrer Volkszugehörigkeit wegen umgebracht werden.
    Ein jenischer Freund von mir hielt mich, nachdem er für die Hochzeit von Maria und Peter abgesagt hatte, beim Gehen am Ärmel zurück. »Lois«, sagte er und sah mich an, als müsste er mir von einem Todesfall berichten, »Lois ich habe eine Bitte an dich. Meine Frau bekommt demnächst ein Kind. Wir werden unsere Bräuche ablegen und wir werden ihm, wenn es größer ist, nichts von unserer Vergangenheit erzählen. Das Kind soll nicht wissen, dass es von jenischem Blut ist. Es soll als ganz normales Kind aufwachsen und dieselben Chancen haben wie alle anderen auch.« Als mein Freund sah, dass ich traurig den Kopf schüttelte, sagte er: »Lois, sind wir als Väter nicht dazu da, unseren Kindern so viele Prügel wie nur möglich aus dem Weg zu räumen? Wir setzen doch keine Kinder in die Welt, um ihnen das Leben schwerer zu machen, als es nötig ist. Und deshalb Lois, nur deshalb, wird unser Kind niemals erfahren, dass wir Jenische sind.« Als mein Freund seine Erklärung beendete, hatten er und ich Tränen in den Augen. Wir umarmten uns und dann ging ich zurück zu meiner Familie. Meiner jenischen Familie.
    Mein kleiner, schlauer Fuchs: In deinem Leben wirst du noch oft dein Gewissen befragen müssen. Vielleicht wird es dir einmal so ergehen, wie damals meinem jenischen Freund, und keine der möglichen Entscheidungen wird dir gänzlich gut erscheinen. Sicher sei dir dann, mein kleiner, schlauer Fuchs, dass dein Innerstes stets nach dem Puren verlangt. Sprichst du also die Wahrheit, wirst du vielleicht gesteinigt. Sprichst du aber die Lüge, tötest du dich selbst.
     
    In den folgenden Wochen, in denen wir an unserem alten Platz die neue Holzhütte errichteten, bemerkten wir die nächste Veränderung im Ort: Es war wunderbares Wetter, die Sonne stand wärmend am Himmel – aber keine, keine einzige der jenischen Familien brach auf, um die traditionelle Reise zu beginnen. Niemand lud Waren auf den Wagen und machte sich davon, so wie es selbstverständlich gewesen war vor dem Krieg, so wie es die Jenischen immer getan hatten, seit Generationen. Die Männer hatten stattdessen für das ganze Jahr am Bau, in Fabriken, im Torfstich und in den Steinbrüchen der Gegend fixe Arbeit gefunden. Und ihre Frauen hockten daheim im Schatten ihrer vier Wände.
    Als der Hitzling seinen Höhepunkt erreicht hatte und unser Häuschen für den Biberling fertig war, entschlossen wir uns, zumindest eine kleine Reise zu machen, in der unmittelbaren Umgebung, den angrenzenden Bezirken. Einen Karren zu bekommen war einfach. Die ersten Jenischen, die wir fragten, behaupteten zwar, sie hätten schon lange keinen Karren mehr, sie seien längst ordentliche und sesshafte Bürger geworden. Als ich aber entgegnete, dass ich doch gerade die Plane des Wagens durchs verstaubte Schupfenfenster gesehen hätte, sahen sie sich nervös um und meinten dann, wir könnten den Wagen nach Einbruch der Dunkelheit abholen. Als wir nach dem Preis fragten, wollten sie nicht einmal mit uns schachern. Nein, stell dir vor, sie wollten nicht einmal Lowi dafür. So lustig das heute vielleicht klingt, aber es war damals für Frida und mich der letzte traurige Beweis dafür, dass sie aufgehört hatten, Jenische zu sein.
    Auf unseren neuen Wagen luden wir allerlei Dinge für den täglichen Bedarf und Werkzeuge, die wir uns, wie den Karren, bei all den Jenischen erbettelten, die beschlossen hatten, mit ihren Wetzmessern, Schleifsteinen, Flickwerkzeugen, Körben und Stofffetzen auch gleich ihr jenisches Leben wegzugeben. Als wir uns dann, über und über vollgepackt, auf den Weg machten, gafften die Gadsche, schielten die Sinti nach uns und taten die Jenischen so, als würden sie uns gar nicht bemerken. Am Ende des Dorfes kamen wir bei einer Gruppe tratschender Gadsche vorbei. Als sie uns mit dem Holzkarren bemerkten, wandten sie ihre Köpfe nach uns und einer von ihnen sagte: »Unterm Hitler hätte es das nicht gegeben.« Peter wäre dem Gschutzten* am liebsten an die Gurgel gesprungen,

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