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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Armee die Fahne der Sowjetunion. Die österreichische, die Gerhard darunter hängen wollte, nahm ihm der russische Militärkommandant freundschaftlich aber energisch wieder ab. Trotzdem ernannte er Gerhard noch am selben Tag zum neuen Bürgermeister von Amaliendorf. Und so kam es, dass wir, nachdem wir unser Versteck im Wald verlassen hatten und in Amaliendorf auftauchten, von keinem Geringeren als vom Bürgermeister begrüßt wurden. »Siehst du«, sagte ich zu Peter, der bis zuletzt skeptisch war, »der Bürgermeister höchstpersönlich begrüßt uns.« Und Gerhard, der sich auf seiner Mistgabel abstützte, meinte: »Bis ihr eure Holzhütte wieder aufgebaut habt, könnt ihr bei mir im Heuschober schlafen.« Dann grinste er und fügte hinzu: »In bürgermeisterlich edlem Heu, nicht in vermieftem tausendjährigen.«
     
    Gerhard war damals unsere moralische Stütze. Er versuchte auch alles Mögliche, um etwas über das Schicksal unserer verschleppten Lieben herauszubekommen. Doch vergebens.
    Im Ort, mein kleiner Fuchs, war es so, dass uns zwar sonst niemand willkommen hieß, aber sehr viele so taten als ob. Ja, wenn man nicht genau hinsah, musste es fast so scheinen, als würden uns nun auch jene schätzen, die vor dem Krieg schon die Nase über uns gerümpft hatten, als sie nur unsere Namen hörten. Wir machten uns wegen der neuen Freundlichkeit nicht allzu große Sorgen, schließlich sprachen ja auch viele Leute Gerhard von einem Tag auf den anderen plötzlich respektvoll und den Hut ziehend mit »Herr Bürgermeister« an.
    »So sind die Gadsche nun einmal«, sagte Peter, und ich wusste in der Eile nicht, was ich entgegnen sollte.
     
    NSDAP-Ortsgruppenleiter Tschukal, der unsere Verwandten von der SS wegbringen hat lassen, wurde von der Roten Armee verhaftet, und der alte Bürgermeister wurde seines Amtes enthoben. Aber sonst blieb alles beim Alten. Die Nazis trafen sich bald wieder im Wirtshaus des Exbürgermeisters und verstummten in ihren alten Reden nur, wenn ein sowjetischer Soldat oder ein geistig nicht Uniformierter in die Stube trat. Dann taten sie so, als würden sie Karten spielen.
    Die größte Veränderung fiel uns lange nicht auf. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie sich hinter der Fassade des Gewöhnlichen versteckte. Es war nämlich so, dass die Fahrenden im Dorf, die während der Nazizeit nicht in Konzentrationslager verschleppt worden waren, unsichtbar geworden waren. Wimmelte es früher nur so von ihnen auf den Wegen und Plätzen des Ortes, belebten sie ehemals die Gegend mit ihrer Buntheit, und tobten und schrien ihre Kinder herum wie wild gewordenes Leben, war nun alles leise, grau und ordentlich, und nichts ließ vermuten, dass es noch Fahrende gab hier in der Gegend.
    »Die Ruhigen haben halt bleiben dürfen und die Wilden haben sie weggebracht«, hat Gerhard versucht, es sich und uns zu erklären. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Als Frida und ich durchs Dorf gingen und an die Türen aller Jenischen klopften, um sie zur jenischen Hochzeit von Maria und Peter einzuladen, wurde uns die Wahrheit mit jeder Absage bewusster. Die Wahrheit war: Alle Jenischen hatten während der Nazidiktatur eine schreckliche Krankheit bekommen. Und diese Krankheit hieß Angst.
    Manche, mit uns entfernt verwandte Jenische, behaupteten allen Ernstes, dass sie gar nicht jenisch seien, und wie wir denn bloß auf die Idee kämen. Andere meinten, dass man nun erst einmal Ruhe geben sollte. Und wieder andere sagten, so als würden sie von weit zurückliegenden düsteren Zeiten sprechen, dass man die jenische Vergangenheit doch Vergangenheit sein lassen sollte, und dass gerade die Jungen gut daran täten, an die Zukunft zu denken. Was Jahrhunderte zuvor niemand geschafft hatte, mein kleiner, schlauer Fuchs, Hitler hatte es geschafft: Er hatte den Jenischen das Jenisch-Sein ausgetrieben, und sie selbst taten so, als sei es ihre eigene Idee gewesen.
    Bei den Roma und Sinti war das anders. Sie wagten sich nach einer Weile wieder aus ihren Hütten. Vorsichtig und in gebückter Haltung strichen sie in der Gegend umher, gleich verletzten Vögeln, die erstmals wieder versuchen, vorsichtig ihre Flügel zu heben. Vielleicht kam ihr Mut daher, dass ihr Gefieder – anders als das der Jenischen – bunt war, und sie wussten, dass sie den Gadsche über kurz oder lang ohnehin wieder auffallen würden. Viele Jenische aber, viele Jenische glaubten, sich dank ihrer weißen Hautfarbe mit der Zeit unbemerkt unter die sesshafte

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