Fucking Berlin
Hauptstadt? Was machst du hier im Süden?«,war eine der Standardfragen zwischen Blowjob und Quickie. »Du studierst Mathematik? Eine gute Wahl, das hat Zukunft«, war der zweite Spruch, den ich mir ständig anhören musste. Dabei konnte ich mir die Uni bei inzwischen zehn Kunden am Tag kaum noch vorstellen, nur die Fachbücher, die ich mitgebracht hatte, erinnerten mich daran, dass ich noch ein anderes Leben hatte. Nicht, dass ich viel Zeit zum Lernen gehabt hätte – das Geschäft in Deutschlands Ökohauptstadt lief einfach viel zu gut.
Am ersten Abend freute ich mich noch über die dreihundertfünfzig Euro, die nach der Abrechnung in meinem Umschlag waren. In Berlin verdiente ich dieses Geld mit Glück an drei Tagen. Am zweiten Tag merkte ich aber schon, dass »Bei Schmidt« eine Art Arbeitslager war. Jeden Morgen um zehn mussten alle Frauen umgezogen und geschminkt im Laden sein, das heißt, man musste alle Einkäufe davor erledigen. In dieser Provinzstadt (so kam sie mir im Vergleich zu Berlin jedenfalls vor) machten aber die Geschäfte erst um halb zehn auf. Da der nächste Supermarkt eine Viertelstunde entfernt lag, konnte man sich dort gerade noch das Nötigste für den Tag grabschen, bevor man Richtung Puff rannte. Als ich Lorraine einmal fragte, ob ich am Nachmittag ein paar Stunden frei haben könnte, spitzte sie ihren Schmollmund und fragte: »Bist du hier zum Arbeiten oder zum Shoppen?« Damit war das Thema für sie erledigt.
»Morgen ist Johanna hier, die Vertretung von Lorraine«, tröstete mich die bayerische Laura. »Sie ist viel lockerer, dann kannst du bestimmt für eine Weile abhauen.«
An dem Tag war Laura sehr gutgelaunt, weil ihre beste Freundin eintraf. Natascha, so hieß sie, kam aus Russland, arbeitete zwei Wochen im Monat in Freiburg und war die restliche Zeit in Berlin. Wie sich herausstellte, wohnte sie im Wedding, nur wenige U-Bahn-Stationen von meinerWohnung entfernt. »Und dann trifft man sich hier«, sagte sie lachend. Verblüffend war auch die Tatsache, dass Natascha sogar Wolfgang aus einem Bordell kannte und ihn genauso wie ich oft zu Hause besucht hatte. »Unsere Welt ist klein, da trifft man dieselben Leute immer wieder«, kommentierte sie und grinste.
Nataschas Geschichte war so ähnlich wie die der anderen russischen Mädchen, die ich bereits in den Berliner Bordellen kennengelernt hatte: mit achtzehn schwanger, geheiratet, nach einem Jahr wieder geschieden, irgendwann durch eine Scheinehe nach Deutschland gelangt, Kind bei der Oma in Russland zurückgelassen – und schließlich angefangen, im Puff zu arbeiten, um genug Geld in die Heimat schicken zu können. Als wir abends mal heimlich eine Runde Wodka-Lemon tranken, erzählte sie mir ihre Erfahrungen, und plötzlich erschien mir mein eigenes Leben in einem anderen, positiveren Licht.
In Berlin hatte ich an manchen Tagen zwölf Stunden am Stück in der »Oase« verbracht, aber nach Feierabend war ich immer nach Hause gefahren, zurück in mein wirkliches Leben. Hier in Freiburg gab es von frühmorgens bis tief in die Nacht nichts als Kunden, die ich bedienen musste, und spätestens ab der vierten Nummer pro Tag ekelte ich mich vor Sex. Nachts musste ich in einem Bett schlafen, auf dem den ganzen Tag gepoppt worden war, und in der trockenen, verqualmten Luft der Wohnung drohte ich zu ersticken. Mir graute es bei dem Gedanken, noch zwölf Tage so zu leben. Ich vermisste plötzlich die Uni, die Spaziergänge mit Jule im Mauerpark nach Vorlesungsschluss, die Sonntagnachmittage mit Ladja und Tomas mit Chips, Bier und »Mensch ärgere dich nicht«. Und ich sehnte mich nach Milan, nach seinen Küssen, unseren verrückten Nächten und den hastigen Abschieden morgens früh.
Natascha merkte, dass irgendwas mit mir nicht stimmte. Am vierten Tag war ich gerade dabei, mich im Bad zu schminken, als ich einen Heulkrampf bekam. Selbst der wasserfeste Kajalstift lief über meine Wangen.
Ich versuchte gerade, mein Gesicht abzuwaschen, als Natascha ohne zu klopfen eintrat. Zuerst nahm sie keine Notiz von mir, dann aber schaute sie mich an und merkte, dass ich leise schluchzte und meine Augen ganz rot waren. Komischerweise war mir die Situation gar nicht peinlich, obwohl ich diese Frau kaum kannte, denn sie hatte vom ersten Moment an eine Zärtlichkeit in ihrer Stimme, die man sonst nur von Großmüttern gewohnt war. Sie umarmte mich und ich ließ es geschehen, während meine Tränen über Nataschas schmale Arme liefen.
»Vsjo
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