Führe mich nicht in Versuchung
du seine Familie erst heute kennengelernt?«
»Genau.«
»Aber warum denn? Offenbar kannte die Gräfin die Majestäten doch.«
»Taten das nicht alle?«
Ast ihr Mann tot?«
»In gewisser Weise.«
Warum war ihr vorher noch nie aufgefallen, wie ausweichend sich Max oft ausdrückte? Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn wütend an. »Max! Ich wen dass du durchaus imstande bist, in ganzen Sätzen zu sprechen.«
Er wandte sich ihr mit einem amüsierten Lächeln zu und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du wirst also nicht aufhören, mir weitere Fragen zu stellen, nicht wahr?«
»Nein.« Sie strahlte ihn an. Zum ersten Mal seit dem Tod der Majestäten hatte sie wieder den alten, vertrauten Max vor sich. Ihren Max.
»In Ordnung, Pandora. Warum soll ich es dir nicht erzählen. Du wirst es eh bald erfahren, wenn du in der Gesellschaft verkehrst.« Er atmete einmal tief durch, als bereite er sich auf eine Rede vor und begann, mit monotoner Stimme einige Fakten aufzuzählen. »Bruce Palmerston, Vicomte Channing, ist der Erbe des Grafen von Blackwood. Seine Mutter und sein Vater leben getrennt. Der Graf befindet sich schon seit über einem Jahrzehnt in Übersee. Er hat keinerlei Kontakt zu seiner Familie - ein Arrangement, das scheinbar allen Beteiligten entgegenkommt.«
»Ich verstehe«, erwiderte sie. Sie verstand nur allzu gut. Kein Wunder, dass Max sich Vicomte Channing verbunden fühlte. Sie hatten Vieles gemeinsam. »Aber die Gräfin ist krank. In einem solchen Fall sollten sie ihre Differenzen doch beilegen.«
Max lächelte. »Ach, Pandora, welch Idealismus! Differenzen können wohl beigelegt werden. Aber Indifferenz ist eine ganz andere Sache.«
Jillian erschauerte angesichts des spöttischen, zynischen Tonfalls in Maxens Stimme. Es betrübte sie, dass er so viel über Gleichgültigkeit wusste.
»Ich glaube, wir können uns nun anstandsvoll zurückziehen«, sagte LadyLou, als sie mit Damien auf sie zutrat. Jillians Tante machte einen erschöpften Eindruck. Ihr dichtes, schwarzes Haar schien plötzlich von mehr silbernen Strähnen durchzogen, die Falten um ihre Augen herum tiefer, und ihr zierlicher Körper noch zerbrechlicher.
Jillian seufzte erleichtert, als Damien ihr und LadyLou in die Kutsche half. Aber bevor Damien und Max sich ihnen anschließen konnten, wurden sie von einem älteren Gentleman angesprochen, in dem sie den Anwalt ihres Vaters erkannte. Er begrüßte sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck, zog seinen Hut und vollführte eine hastige Verbeugung.
»Erlauben Sie, dass ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid ausspreche, Hoheit und ... hm ... Hoheit«, sagte er, während sein Blick zwischen Damien und Max hin und her wanderte und eine verlegene Röte in seine Wangen stieg. »Vergeben Sie mir bitte. Es ist recht verwirrend, zwei Herzöge zur selben Zeit anzusprechen.«
Jillian beobachtete, wie Damien und Max ungerührt den Worten des Mannes lauschten. Beide standen stolz und aufrecht in ihrer formellen, dunklen Kleidung da Max golden und breitschultrig und Damien dunkel und geschmeidig, beide auf ihre Weise Ehrfurcht einflößend. Die Vorgänge des Tages erhielten mit einem Male eine neue Bedeutung für sie. Etwas war geschehen, das sie bis zu diesem Moment gar nicht recht verstanden hatte.
Max und Damien waren nun die Hoheiten, und sie machten einen wahrhaft prächtigen Eindruck dabei.
Kapitel 6
London Frühjahr 1818
»Gott, Jillie, du wiegst ja eine Tonne«, stöhnte Damien, als er versuchte, Jillian an den Armen vom Sitz der Kutsche hoch zu ziehen. »Du könntest wenigstens ein kleines bisschen helfen.«
Ach versuche es ja, aber mein Fuß hat sich in diesem verdammten Reifrock verheddert.«
»Jillian!« keuchte LadyLou.
Ach werde dir deine Flucherei ausnahmsweise noch einmal durchgehen lassen«, sagte Damien, ließ ihre Arme los, schob die voluminösen Röcke zur Seite und tastete nach ihrem Fuß. »Ich sehe ein, dass deine Vorstellung bei Hofe eine anstrengende Angelegenheit gewesen ist.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend«, murmelte Jillian, während ihr Bruder ihren Schuh befreite und sich weiterhin bemühte, sie aus der Kutsche hinauszumanövrieren. Ihr Kopfschmuck blieb oben an der Kutschentür hängen, und eine Straußenfeder segelte hinab. Sobald Damien sie sicher auf dem Boden abgesetzt hatte, trat sie mit voller Absicht darauf und zerquetschte sie mit ihrem Absatz. Hoffentlich würde sie nie wieder in ihrem Leben auch nur eine
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