Führe mich nicht in Versuchung
Damien sich von Zeit zu Zeit ihrer Trauer hingaben, beschäftigte sie immer noch.
Jetzt war sie vor Erschöpfung wie betäubt. Sie seufzte tief und blickte sich um. Schwarze Kutschen säumten die Straße. Pferde, die mit schwarzem Samt geschmückt waren, scharrten mit den Hufen und fraßen aus ihren Futterbeuteln. Diener und Kutscher - alle in Schwarz gekleidet - standen steif mit nach vorne gerichteten Augen und geraden Schultern da, jederzeit bereit, ihre Herrschaft vom Ort dieses traurigen Geschehens wegzubringen.
Nichts von all dem kam ihr real vor. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als handele es sich um eine Art von makabrem, sozialem Ritus und nicht um das Ende einer persönlichen Tragödie. Lediglich die Worte des Erzbischofs schufen eine echte Verbindung zu den Majestäten. Ansonsten gab es hier nichts, was sie an sie erinnerte. Nur in Westbrook Court verspürte sie den Verlust, die für immer leeren Plätze. Am schlimmsten war das Bewusstsein, dass sie nun nicht mehr darauf hoffen konnte, irgendwann einmal die Anerkennung in der Stimme ihres Vaters zu vernehmen, nach der sie sich immer gesehnt hatte - oder ein Zeichen seiner Liebe zu erhalten.
Eine Ahnung durchgreifender Veränderungen lag in der Luft, und sie schien Max am meisten zu bewegen. Er war in sich gekehrt und teilte nichts weiter mit ihnen als seine Gegenwart. Seine Gedanken entzogen sich ihnen ebenso wie sein Kummer.
Jillian verspürte ein unangenehmes Gefühl, das ihr die Brust zuschnürte, als ein Gentleman mit kastanienbraunem Haar auf sie zutrat, an dessen Arme sich zwei verschleierte Damen klammerten. Jillian blickte zu Max hinauf und wartete auf den eisigen Blick, mit dem er jeden bedachte, der es wagte, auf ihn zuzutreten. Sie war deshalb sehr überrascht, als er den Kopf senkte und mit warmem Tonfall eine Begrüßung aussprach.
»Bruce, wie schön, dich zu sehen.«
»Ich dachte, es würde helfen, ein vertrautes Gesicht zu sehen«, erwiderte der Gentleman.
Jillian betrachtete den Mann, dem die ersten freundlichen Worte gewidmet waren und fragte sich, mit wem sie es wohl zu tun haben mochte. Ihr Schleier erlaubte ihr keine klare Sicht. Sie erkannte wohl, dass er attraktiv und recht groß gewachsen war, aber sie hatte nicht genug Kraft, ihn einer genauen Musterung zu unterziehen. Und was die beiden Frauen betraf, so war es unmöglich, ihre Züge durch die Schleier, die ihre Gesichter verhüllten, auszumachen. Ihr blieb allein die Feststellung, dass sie groß und schlank waren.
»Bruce«, sagte eine der Frauen mit einer sanften, zitternden Stimme.
Der Mann runzelte ein wenig die Stirn und blickte auf die Frau zu seiner Linken hinab. »Max, ich möchte dir meine Mutter, Lady Blackwood, und meine Schwester, Lady Kathleen, vorstellen«, sagte er.
»Lady Blackwood, Kathleen«, sagte Max und nickte den beiden zu. »Bruce spricht oft von Ihnen.«
Die beiden Frauen murmelten einige höfliche und doch seltsam gezwungene Begrüßungsworte.
Max wandte sich Jillian zu und stellte sie Bruce Palmerston, Vicomte Channing, und seiner Familie vor.
»Die Sache mit Ihren Vätern tut mir sehr leid«, flüsterte Lady Blackwood und stützte sich schwer auf ihren Sohn.
»Bitte entschuldigt uns. Meiner Mutter geht es nicht besonders gut«, sagte der Vicomte und runzelte besorgt die Stirn.
»Dann bin ich doppelt dankbar für Ihre Anwesenheit hier, Gräfin«, erwiderte Max mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ich bedauere zutiefst, dass wir uns unter solch traurigen Umständen kennenlernen.«
Sie beugte sich ein wenig vor und hob zitternd die Hand, als wolle sie Max berühren und habe es sich dann noch einmal anders überlegt. »Sie sind Ihrem Vater sehr ähnlich«, sagte sie leise und umklammerte wieder den Arm ihres Sohnes.
Max erstarrte und erwiderte nichts, während Bruce seine Mutter und seine Schwester zu der wartenden Kutsche hinüberführte.
Jillian runzelte die Stirn. Sie war erstaunt, mit welcher Intensität Maxens Blick auf der kleinen, sich entfernenden Gruppe zu verharren schien. Sein Umgang mit Bruce hatte Vertrautheit widergespiegelt, ganz so, als seien sie mehr als bloße Bekannte. »Er ist ein Freund«, stellte sie fest.
Es war ihr bisher nie so klar gewesen, dass es Bereiche in Maxens und Damiens Leben gab, an denen sie keinen Anteil hatte.
»Ja.«
»Er ist derjenige, von dem du und Damien gesprochen habt.«
»Ja.«
»Du kennst ihn also schon lange?«
»Wir haben zusammen die Universität besucht.«
»Und doch hast
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