Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
worden wie Dr. Joseph und seine Frau. Aus purer Menschenfreundlichkeit hatte er Dr. Joseph nicht erzählt, was er wusste: Dass der Kindertransport, der Österreich im Juni verlassen hatte und in dem die Zwillinge der Josephs saßen, England nicht erreicht hatte, bevor die Deutschen in Polen einmarschierten waren und England Deutschland den Krieg erklärt hatte. Er wusste davon, weil sein eigener Sohn in diesem Zug gewesen und, so hatte er angenommen, wie die Töchter von Dr. Joseph sicher in England angekommen war. Bis er ihn zu seinem Entsetzen im Männerblock in Auschwitz sah. In Gurs hatten sie zuerst die Männer und Jungen für die Deportation ausgesucht, nach Drancy geschickt und dann schließlich im Viehwaggon weiter nach Auschwitz, wie der Junge seinem verzweifelten Vater erzählt hatte. Zwei Monate später war sein Sohn an einer Lungenentzündung gestorben. Er war zwölf Jahre alt.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Zwillinge der Josephs das Glück gehabt hatten, England zu erreichen, waren sie außer Reichweite der Deutschen. Zumindest bis zur Invasion. Dann war ihr Schicksal besiegelt. Wenn sie es nicht geschafft hatten und noch am Leben waren, mussten sie immer noch in Gurs sein, es sei denn, man hatte sie schon nach Drancy weitergeschickt. Natürlich gab es darüber Aufzeichnungen. Die Deutschen waren gründlich.
Wenn die Mädchen in Gurs oder Drancy waren, würden sie den Deutschen irgendwann sowieso in die Hände fallen, wenn sie ihnen nicht schon längst in die Hände gefallen waren. Es warnur eine Frage der Zeit, bis sie starben oder in eines der größeren Konzentrationslager geschickt wurden, wie sein Sohn – und seine jüngeren Kinder. Also, argumentierte er, wäre es egal, wenn er dem Doktor von ihrer Existenz und der ihrer Eltern berichtete. Alles, woran er denken konnte, war Brot.
Er wusste, dass man die Frau von Dr. Joseph in das Frauenlager gebracht hatte. Durch den Stacheldrahtzaun hatte er sie gesehen. Sie war ausgemergelt und hatte wahrscheinlich Tuberkulose, aber sie lebte.
Um sein Gewissen zu erleichtern, überlegte der Insasse, welche Vorteile es für die Josephs hätte, wenn er dem Doktor von ihnen und ihren Töchtern erzählte. Die Behörden würden die Mädchen bald ausfindig machen, falls sie tatsächlich in einem französischen Lager waren. Sie würden auf der Stelle nach Auschwitz gebracht und die Josephs wären in einer der Zellen in dem Block wiedervereint, in dem die medizinischen Experimente durchgeführt wurden.
Er wusste, dass es für niemanden an diesem Ort des Schreckens die kleinste Hoffnung gab. Doch die Josephs wären für einen kurzen Augenblick wieder zusammen. Als Objekte der medizinischen Versuche bekamen sie Suppe und Haferschleim, vielleicht sogar eine Zwiebel oder etwas gekochten Kohl. Und er selbst bekäme eine Extraportion Brot …
Also würde er das Leiden der Josephs nicht vergrößern, wenn er seine Information gegen Brot eintauschte. Ganz im Gegenteil. Für kurze Zeit würde ihr Leben sogar besser werden. Bis zum Ende. Er verweilte nicht allzu lang bei dem Gedanken an das, was am Ende unweigerlich passierte.
Er würde es tun.
Als die Häftlinge durch die Tür nach draußen wankten, um die Eimer mit schmutzigem Wasser auszuschütten, blieb der letzte vor dem Assistenten des Arztes stehen und bat um Erlaubnis, etwas sagen zu dürfen. Er hatte Informationen, dass die Eltern von Zwillingsmädchen hier im Lager waren und dass man die Kinder ausfindig machen konnte.
Der Doktor hörte zu und machte sich in seiner präzisen Handschrift Notizen. Er lächelte. Die Anweisung, dem Mann eine Extraportion Brot auszuhändigen, würde er geben, wenn alle vier Versuchsobjekte sicher in seinem Labor waren. Das würde nicht lang dauern. Da der Führer selbst so großes Interesse an dem Projekt hatte, würde er die Kinder der Josephs bald haben, wenn sie sich in Drancy, in Gurs oder auch nur in der Nähe des Internierungslagers aufhielten. Einstweilen befahl er, die Eltern Joseph in den Versuchstrakt zu bringen und mit Decken und Suppe zu versorgen.
24
Crowmarsh Priors,
Januar bis Mai 1942
Als Frances über Weihnachten wegfuhr und danach wochenlang wegblieb, vermisste Oliver sie. Als er sah, dass sie wieder da war, wurde es ihm leichter ums Herz. Nach dem Vormittagsgottesdienst am ersten Sonntag nach ihrer Rückkehr hielt er ihre Hand in seiner und fragte sie, ob es wahr sei, was er gehört habe? Dass sie irgendeinem Komitee in London zugeteilt worden
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