Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
brauchen, nur gehen sie ebenso wenig zur Schule wie ich. Ich bin fast erwachsen. Können Sie den Saum nicht ein bisschen länger machen? In meinem Alter sollten die Kleider doch länger sein als bei einem Schulmädchen.« Zu ihrer Überraschung nickte Frau Zayman und rollte das Maßband noch ein Stückchen weiter ab. Tanni fiel auf, dass Frau Zaymans Augen rot waren. Vielleicht hatte auch sie wegen Frau Anna geweint? Tanni drehte sich um, um zu sehen, ob das Maßband weit genug an ihrer Wade herunterreichte.
»Halt still, Tanni«, fuhr ihre Mutter sie an und stach sich mit einer Nadel in die Hand.
Die Schule war ein schwieriges Thema. In österreichischen Schulen wurden jüdische Kinder nicht mehr geduldet, also behielten die besorgten Eltern sie meist zu Hause. Nun hatte Tanni außer Lili und Klara niemanden zum Spielen und so schlich sie trübsinnig und verloren durchs Haus, vermisste ihre Freundinnen, ihre Musikstunden und sogar den Geografieunterricht, den sie immer gehasst hatte. Ihre Schulbücher und ihr Tennisschläger lagen auf ihrem Schreibtisch, ihr Tornister stand in einer Ecke und staubte allmählich zu. Ihr Vater hatte ihr zwar strenge Anweisungen gegeben, allein zu lernen, doch er merkte nicht, dass sie sich nicht daran hielt, weil er so sehr mit anderen Dingen beschäftigt war.Wenn sie nicht mit ihren Schwestern spielte, vertiefte sich Tanni stattdessen in den Gedichtband, den Anton ihr mitgebracht hatte, und träumte von Liebe … und von Antons hübschem Gesicht.
Während Frau Zayman mit dem Maßband herumfuhrwerkte, wurde sie noch niedergeschlagener. Was hatte es für einen Sinn, ein neues Kleid zu bekommen? Sie gingen nie irgendwohin und auch Anton, der inzwischen von der Universität ausgeschlossen war, verließ kaum das Haus. Er würde sie nie in ihrem neuen Kleid sehen. Das Schlimmste war, dass Tanni nicht zum alljährlichen Kinderball gehen durfte, der Mitte Dezember stattfand. Ihre Mutter seufzte. Der Kinderball war ein weiteres schwieriges Thema im Hause Joseph. Die Tanzklassen für junge Leute gehörten zu den wenigen Aktivitäten, die für jüdische Kinder nicht ausdrücklich verboten waren, wahrscheinlich, weil die Schwester des Bürgermeisters ihren Lebensunterhalt mit Unterricht in Gesellschaftstanz und gutem Benehmen verdiente. Frau Joseph wusste, dass Tanni gern zum Kinderball gehen wollte. Trotzdem hatte sie ihr vor einigen Monaten verboten, den Tanzkurs weiterhin zu besuchen. Es hatte einfach zu viele hässliche Zwischenfälle gegeben, als dass sie ihre Tochter noch aus dem Haus lassen konnte.
Frau Zayman nahm weiter Maß. »Was für eine schmale Taille das Mädchen hat! Du solltest mehr essen, Tanni.«
Tannis Mutter murmelte, wie schwierig es sei, Lebensmittel zu kaufen, und Frau Zayman errötete. Zum ersten Mal fiel Tanni auf, wie dünn Frau Zayman aussah. Sie war früher so mollig und kräftig gewesen wie Bruno, ihr Sohn. »Sie haben neue Wintersachen für Lili und Klara gemacht. So hübsche Mäntel mit Messingknöpfen! Aber was machen Sie denn für mich, dass Sie mich ausmessen müssen?« Tanni versuchte, Interesse zu zeigen, und unterdrückte die Tränen, die ihr in diesen Tagen nur allzu schnell zu kommen schienen. »Und warum stehen diese Reisetaschen hier? Ich dachte, sie werden auf dem Dachboden aufbewahrt.«
»Neugier ist der Katze Tod«, sagte ihre Mutter.
»Welche Farbe denn? Kann ich nicht wenigstens den Stoff sehen, den Stoff für mein eigenes Kleid, Mutti? Bitte mach es nichtwieder rosa wie beim letzten Mal. Rosa mit Bändern, das ist was für Babys, für Klara und Lili. Sie sind erst vier und sie sehen hinreißend aus in Rosa, wie kleine Bonbons. Ich hätte gern …«
»Was hättest du gern?«, fragte Frau Zayman und maß ihren Brustumfang.
Tanni überlegte, welches Kleid ein Mädchen tragen würde, in das sich jemand verliebt, ein älterer Junge wie Anton, der auf der Universität in Wien gewesen war. Dort war er wahrscheinlich vielen eleganten Damen begegnet. Bevor die Kinos für Juden geschlossen wurden, hatte Tanni einen Film gesehen, in dem eine glamouröse amerikanische Schauspielerin mit einem schmucken Helden in Frack und weißem Schal in das ewige Glück tanzte. Sie wusste genau, was sie sich wünschte!
Voller Eifer sagte sie zu Frau Zayman: »Etwas Umwerfendes und Erwachsenes, und lang soll es sein, aus dunkelblauem Samt mit Silber, vielleicht mit Federn am Halsausschnitt und einer kleinen Schleppe. Sandaletten mit hohem Absatz. Eine kleine
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