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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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presst. Seine gespreizten Finger krallen sich ins Fleisch, als würde er sich selbst in ihr festhalten. Sie lugt durch die Ritzen zwischen den Brettern ins Freie, sieht die Unterseite der Rutsche, das Gras davor.
    Seine Hand löst sich von den Brettern und fährt ihr auf den Mund. Ein künstlicher, bitterer Geschmack schiebt sich zwischen ihren Lippen hindurch. Sie schließt die Augen, stellt sich vor, wie er hinter ihr kniet, auf ihren Po schaut, wie sein Blick über ihren Rücken gleitet, auf dem sein knittriges Hemd aufstößt. Sieht er zufrieden aus? Gierig? Verzieht er das Gesicht zu einer Grimasse, wie Arno es tut? Sie denkt an seine hochgezogene Oberlippe, die nackten Wangen, wenn sie denn noch nackt sind, waren sie schon wieder stoppelig? Er fühlt sich schon wie eine ferne Erinnerung an, obwohl er noch immer in ihr ist.
    Sie gräbt ihr Gesicht in seine Hand. Ihre Schneidezähne streichen über die Fingerballen. Sie atmet den seltsamen Geruch ein, etwas Chemisches, vielleicht ein Reiniger, merkt gar nicht, wie sie auf einmal zubeißt, bis das Zischen über ihr Ohr fährt. Er reißt die Hand weg, drückt sie neben die andere in ihren Bauch. Ihre Brust knallt gegen die Wand. Gleich, denkt sie und hält sich an den Latten fest, um sich auf das Ende vorzubereiten.
    Aber es ist schon vorbei. Er rutscht so schnell aus ihr heraus, dass sie nicht mal Zeit hat, den Kopf zu drehen, schon ist er vor dem Häuschen.
    In der Hocke kauernd, wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal im Freien pinkelt, sitzt meine Mutter da, spürt, wie es tatsächlich an ihren Beinen hinabtropft. Die Hose und der Schlüpfer schnüren sich um ihre Waden. Sie muss erst hinter ihm her nach draußen krabbeln, um sie hochzuziehen.
    Er sitzt ein paar Meter weiter auf der Schaukel, scheint sich die Hand zu reiben, aber es ist zu dunkel, um sicher zu sein.
    »Tschuldigung«, sagt meine Mutter sicherheitshalber, als sie bei ihm ankommt. Eine Flamme blitzt auf. Die Zigarettenspitze leuchtet rot zwischen seinen Fingern.
    Meine Mutter fährt sich übers Haar, tastet in ihren Nacken, aber das Küchengummi scheint endgültig verloren. Sie sieht ihm zu, wie er schaukelt, zu ihr hin, von ihr weg, zu ihr hin und wieder weg, denkt darüber nach, sich auf die zweite Schaukel zu setzen.
    Und bleibt doch stehen.
    Wie eine Mauer ragt die Dunkelheit zwischen ihnen auf. Nur die glühende Zigarettenspitze wirft ein wenig Licht auf seine Wangen, die tatsächlich noch rasiert sind. Oder schon wieder? Wie lange dauert es, bis ein Bart nachwächst? Einen Tag, eine Woche, ein paar Stunden? Mein Großvater rasiert sich jeden Morgen und wenn er ein Essen hat auch noch mal am Nachmittag. Aber das ist natürlich auch Mache, damit alle merken, was für Massen Testosteron in ihm toben. Bei Arno reicht einmal am Tag. Glaubt meine Mutter zumindest. Er geht immer erst ins Bad, wenn sie aus dem Haus ist, um sie nicht aufzuhalten. Außer am Wochenende, da lässt er es manchmal ganz und bleibt bis abends im Schlafanzug. Sie denkt daran, wie er jetzt auf sie wartet, wie er in der Küche sitzt und aus dem Fenster schaut, die Serviette vom Morgen zu einer Ziehharmonika gefaltet. Was, wenn meine Großmutter ihn tatsächlich wegen des Kuchens angerufen hat und ihm erzählt hat, dass meine Mutter schon vor einer Ewigkeit losgegangen ist?
    Geh heim, denkt sie, du hast gekriegt, was du wolltest, was hält dich denn noch hier? Aber stattdessen glotzt sie weiter reglos auf die Zigarette, die der Nacht in kurzen Abständen neue Bilder entreißt, wie wenn die Blende einer Kamera sich schließt und wieder öffnet, seine Stirn, seine Nase, seine Augen, die sich am Filter festklammern. Fast scheint es, als würde er schielen. Mit jedem Zug scheint er sich weiter von ihr zu entfernen, als stünde die Länge der Zigarette umgekehrt proportional zu ihrer Distanz. y=k∙ 1 / x, denkt meine Mutter und denkt das wirklich, ypsilon gleich k mal 1 durch x, flüchtet sich vor lauter Verzweiflung wieder in den Verstand. Aber der hat jetzt wohl wirklich die Schnauze voll davon, ihr zu helfen. Wie ein Kaugummiautomat, bei dem man alle Knöpfe auf einmal gedrückt hat, spuckt er wahllos irgendwelches Zeug aus, Hyperbel, asymptotische Annährung, die voluminöse Expansion subterraner Knollengewächse steht in reziproker Relation zur intellektuellen Kapazität des Agrarökonomen, mein Großvater hat sich halb kaputt gelacht, als sie in der fünften Klasse mit diesem Spruch nach Hause kam. Bei jeder

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