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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Großvater. Die nächste potentielle Berufung habe an die Tür geklopft und ließe sich leider noch vielversprechender an: »Sie verstehen sicher.«
    Und meine Mutter verstand es natürlich auch und begann ohne Widerrede mit dem Oboespielen. Oder Rhönrad fahren. Was mein Großvater sich halt gerade hatte einfallen lassen, um das Regal mit neuen Pokalen zu füllen. Erst zwanzig Jahre später, die klatschenden Kellner zu ihren Füßen, Schnuckiputzi , der ebenfalls auf dem Tisch tanzte, im Rücken, sang sie wieder, selbst überrascht von der tiefen, sinnlichen Stimme, die unbemerkt in ihr gereift war und der zuzuhören sie richtiggehend genoss. Aber auch was das bedeutet, etwas genießen, wusste sie damals noch nicht, glaubte noch, ihr Tagesablauf diene nur dem einen Ziel: herauszufinden, welche ihrer Meisterleistungen die allerallermeisterhafteste sei, die, mit der sie einmal hoch hinaus und vor allem: raus kommen würde, aus diesem »Kaff«, wie sie fast schon genauso angeekelt wie mein Großvater sagte.
    Zunächst musste sie es aber durch die Jugend schaffen. Und für die war sie erst recht zu klug, zumindest für ihre, in der das mit dem Jungsein tatsächlich noch die Jungen zu besorgen hatten, und die ganze Last des Spaß-Habens und Sau-Rauslassens und Daneben-Benehmens auf ihren Schultern lag, damit die Erwachsenen sich in Ruhe totackern konnten. Sie hasste alles daran: Das Getuschel in ihrem Rücken, weil sie wie immer als einzige null Fehler hatte und die ganze Klassenarbeit an der Tafel vorrechnen musste. Weil es ihr nicht gelang, sich in einen Schauspieler oder Sänger zu verlieben, geschweige denn in sonst jemanden. Sie hasste das Gekicher über ihre knielangen Röcke, während die Banknachbarin mit tintigen Fingern den Ratzefummel über die Tischplatte schrubbte. Die schmutzig gemeinten Witze, über die man lachen musste, nie konnte, heimlich stolz darauf war, es nicht zu können, und sich noch heimlicher fragte, was denn eigentlich nicht mit einem stimmte. Hasste die törichte Aufmüpfigkeit, die Dummheit, die sich als Idealismus tarnte. Und die noch größere Dummheit, auch noch damit zu prahlen, selbst Jahre später, wenn die zerrissenen Jeans längst Anzughosen mit Bügelfalte gewichen waren.
    Die Großzügigkeit, mit der andere ihrem früheren Ich begegneten, war ihr zuwider. Was auch immer in Wahrheit an Kopfdellen oder Löchern oder Lücken bei ihr da gewesen sein mochte, um sie biegsam zu halten oder nicht, es war längst zugewachsen. Ob mit zehn, mit 20, mit 30, mit 40 (und genauso mit 49, nur die 50 schaffte sie nicht mehr ganz), immer schon wollte sie dieselbe gewesen sein, die, die auch ich kennenlernte, eine Ungeduldige, Fahrige. Eine, die es sich leicht zu schwer macht. Eine, die sagt, dass es ihr egal ist, was die andern von ihr denken, und dann noch mal lauter, damit es auch die in der hintersten Reihe hören. Die sich so anstrengt, sie selbst zu sein, dass sie dabei vergisst, wer das ist.
    Am meisten aber hasste sie an der Jugend, was sie mit ihr machte. Solange ich denken kann, stand meine Mutter mit ihrem Körper auf Kriegsfuß, was damals noch nicht die Regel war. Er schien ihr fremd, seltsam, abstoßend, vor allem aber fühlte sie sich von ihm hintergangen. Die Drähte und Schläuche in ihrem Inneren, die sich unkontrolliert erhitzten, ihr das Blut in die Wangen trieben und aller Welt ihre Verlegenheit verrieten, schwitzige Hände, Magengrummeln, Zittern, all das schien ihr nur einem einzigen Zweck zu dienen: sie bloßzustellen. Kein Gefühl, keinen Gedanken, den ihr Körper sie für sich behalten ließ, jedes noch so kleine Geheimnis ließ er nach außen sickern, wie ein löchriger Müllsack, durch den es auf die Straße sifft. Und als wäre das nicht schlimm genug, begannen ihr plötzlich überall Haare zu wachsen, unter den Achseln, an den Beinen. Und dazwischen natürlich auch.
    Mein Großvater war davon genauso wenig begeistert. So eilig er es auch damit hatte, meine Mutter aus der finsteren Kindheit ins Reich der Erwachsenen zu führen  – dass er dabei den Umweg durch die Pubertät nehmen musste, fand er überaus ärgerlich. Es fiel ihm schwer, sich daran zu gewöhnen, dass unter den wachen Augen, die an seinen Lippen hingen, auf einmal auch ein Paar Brüste mit am Tisch saß, das sich noch dazu so ächzend langsam durch die Rippen zwängte, dass man kaum den Blick davon lassen konnte, als würde man an einem schrecklichen Unfall vorbeifahren.
    Meine Großmutter stand ihm

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