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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Glas von der Seite an ihres stößt.
    »Nastrowje«, sagt sie und trinkt. Das neuerliche Brennen zieht ihre Lider zusammen. Verschwommen sieht sie, wie Alex wieder lacht.
    »Russisch spresch du auh, Schnuggibuudsi!«, ruft Schnuckiputzi und macht noch größere Augen, »bist du eine rischtig Genie!«
    Meine Mutter wundert sich, wie schnell ihr altes Leben, ja, in diesem Moment nennt sie es in Gedanken bereits ihr altes, wie schnell sie also ihr altes Leben in ihrem neuen aufgespürt hat. Aber dann sagt Alex: »Nein, kann sie nicht!« Seine Oberlippe springt so weit zur Nase, dass ein Stück Wurst zwischen seinen Zähnen aufblitzt.
    Meine Mutter reicht das Feuerzeug weiter, das ihr der andere Kellner hinhält, aber Alex hat schon von irgendwoher ein Päckchen Streichhölzer bekommen und dreht ihr den Rücken zu, während er mit dem alten Mädchen zu reden beginnt, das sofort die Zeitschrift sinken lässt und ihm aufmerksam zuhört.
    Meine Mutter betrachtet die Zigarette in seiner Hand, die dem Auf und Ab seiner Geschichte folgt. Der Rauch bleibt an den Höhepunkten hängen, bildet ein Punktemuster, während er wieder mit dieser schönen, vollen Stimme spricht, die er offenbar fürs Russische reserviert hält.
    Wenn er nur mit mir so reden würde, denkt sie.
    Wenn er nur überhaupt mit mir reden würde, denkt sie.
    Wenn er mich nur wenigstens zur Kenntnis nehmen würde, denkt sie.
    »Nastrowje!«, brüllt Nadja und blinzelt meiner Mutter zu. Aber diesmal wagt sie nichts mehr zu erwidern.
    Ihr Blick gleitet von der Zigarettenspitze auf seinen Oberkörper, fährt die Weste entlang, zu seinem Gürtel. Ihr Kopf sackt nach unten, wird immer schwerer, bis er endlich wie eine übervolle Schublade aus den Angeln bricht und auf ihre Brust fällt. Sie starrt in ihren Ausschnitt, spürt, wie sie ihre eigenen Haare kitzeln, dann seine Hand, die zwischen ihre Beine fährt. Als gehöre sie genau dorthin, kuschelt sie sich in die Nische, macht es sich bequem, während meine Mutter vor Schreck zu atmen vergisst. Wie versteinert sitzt sie da, sieht durch ihr Schnapsglas, das ihr wieder irgendjemand in die Hand drückt, wie Schnuckiputzi aufspringt und die Gitarre von der Bar nimmt. Die Haut unter ihrer Strumpfhose zieht sich zusammen. Sie schiebt sich ein wenig auf die Stuhlkante zu, versucht ihn näher an sich heranzubringen. Aber seine Finger bleiben genau da, wo sie sind. Wieder brandet der Wodka durch ihren Körper. Dann spürt sie plötzlich ein Paar Hände auf ihren Schultern, das sie so durchschüttelt, dass die zwischen ihren Beinen von ihr abrutscht.
    »Sie sagt, du sollst singen«, hört sie Alex’ Stimme, als käme sie von weit her. Schwerfällig zieht sie das Kinn nach oben, sieht endlich das aufgeknöpfte Hemd, den Leberfleck an seinem Schlüsselbein, der ihr davor noch nie aufgefallen ist, kleiner als die am Rücken, aber mit Haaren darin, wie ein zerfledderter Strauch auf der Spitze eines Hügels. Sie folgt den Knöpfen nach oben, am Hals entlang. Aber bevor sie sein Gesicht erreicht, drängeln sich Nadjas aufgeregt auf und ab springende Lippen dazwischen.
    »Du groß Sängerin! Sing du, ist gut!«
    Meine Mutter winkt ab, versucht es zumindest, aber stattdessen schlägt ihr Arm auf der Tischkante auf, was Schnuckiputzi offenbar als gescheiterten Aufstehversuch missversteht. Er zieht sie nach oben, wackelt mit seiner Gitarre vor ihr. »O que queres cantar?«
    »Was?« Meine Mutter presst die Lider zusammen, drückt die Fingerknöchel hinein.
    »Was du willst singhe?«, wiederholt Schnuckiputzi und zupft ein paar Saiten.
    Meine Mutter nimmt die Hände von den Augen. »Das kenn ich nicht.«
    »Was kennst du denn?«
    »Keine Ahnung«, sie schaut sich hilfesuchend um, sieht die unzähligen Augen, die plötzlich alle auf sie gerichtet sind, alle bis auf zwei. Als ginge sie ihn gar nichts an, unterhält er sich weiter mit dem alten Mädchen, während meine Mutter angestrengt versucht, sich an irgendeine Melodie zu erinnern. Sie geht ihre alten Kinderlieder durch, die natürlich alle keine Kinderlieder, sondern Opern waren, denkt an die Stücke, die sie im Gesangsunterricht gelernt hat, aber keine zwei Töne fallen ihr ein, die sich zueinander fügen wollen. Ihr Blick fährt über die Reihen hinweg, bleibt kurz an Dima hängen, der die Haut von einem Stück Blutwurst abzieht, bis sie endlich »her name was Lola …« nuschelt.
    »… she was a showgirl!«, ruft Schnuckiputzi begeistert und beginnt loszuschrammeln.
    »With

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