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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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nicht, warum ich mich so aufgeregt habe«, fuhr sie fort, und weil er noch immer nichts sagte und meine Mutter dann eben doch meine Mutter war, »ich hatte bisher bei allen Tests eigentlich nur Einsen.«
    Er wandte sich ihr zu, sah einen Augenblick ein wenig verwirrt aus. »Ah, ich vergess immer, dass hier ne Eins gut ist«, er schüttelte den Kopf, »bei uns in der Sowjetunion war die Fünf die beste Note.«
    »Ach wirklich?«, fragte meine Mutter.
    Er nickte wieder. »Vor einer wichtigen Klausur hat meine Oma mir immer ein Fünf-Kopeken-Stück unters Kopfkissen gelegt. Man sagt, das bringt Glück.«
    Meine Mutter sah, wie sein Gesicht wieder diesen neblig-nostalgischen Ausdruck annahm.
    »Wie hieß sie denn?«, fragte sie schnell, bevor er sich wieder von ihr wegerinnerte, »deine Großmutter meine ich.«
    Er holte tief Luft, als brauche er seinen ganzen Atem für die Antwort. »Wolodja Iwanowna«, sagte er mit seiner schönen Russisch-Stimme und schien fast ein wenig zu seufzen.
    »Ach, ist das dein Nachname, Iwanowna ?«
    »Nein, Iwanowna ist der Vatersname.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Mein Urgroßvater hieß Iwan, deshalb war der Vatersname meiner Großmutter Iwanowna.«
    »Ach wirklich?«, fragte meine Mutter wieder, »gibt’s denn auch einen Muttersnamen?«
    Alex schüttelte den Kopf.
    »Ah, das heißt, wenn wir zum Beispiel ein Kind hätten, dann hieße es nur nach dir?«
    Er machte einen Schritt von ihr weg. »Wieso sollten wir denn ein Kind haben?«
    »Ich mein ja nur, theoretisch«, beeilte sie sich zu sagen, »also, wenn wir verheiratet wären und ein Kind hätten, hieße es dann auch, also meinetwegen Anna Alexan…«
    »Hast du vergessen, dass du schon verheiratet bist?«, schnitt er ihr das Wort ab.
    »Nein, natürlich nicht.« Sie versuchte zu lachen. »Ich wollte ja nur sagen, wenn, also, wenn ich noch nicht  … «
    Alex blieb abrupt stehen. »Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?« Seine Brauen verbanden sich zu einem Strich. Er nahm einen langen Zug, drehte den Kopf von ihr weg. »Wir würden auch dann nicht heiraten.«
    Meiner Mutter wurde wieder schwindelig. »Warum denn nicht?«, fragte sie, vergeblich bemüht, die Frage als reine Neugier zu verkaufen.
    Alex sah dem Rauch hinterher, während sich die Asche an seiner Zigarette sammelte, warf sie auf den Boden, obwohl noch fast ein Zentimeter übrig war. »Weil du keine Jüdin bist«, sagte er endlich.
    Das Lachen im Mund meiner Mutter wurde ranzig. »Ich wusste gar nicht, dass du so religiös bist.«
    »Religiös?« Er lachte laut auf. »Das letzte Mal, dass ich eine Synagoge von innen gesehen habe, war bei meiner Bar Mitzwa. Und auch bei dem Scheiß hab ich nur mitgemacht, weil’s Geschenke gab. Nein, nein, ich bin Atheist.«
    »Ich auch«, rief meine Mutter, begeistert, dass sich das Nicht-Glauben jetzt endlich mal auszahlte. Aber Alex wollte nichts von dem Pfaffenhass meines Großvaters hören. »Das hat nichts mit Glauben zu tun«, sagte er gereizt und lief wieder los.
    »Mit was denn dann?«, fragte sie, während sie hinter ihm herrannte.
    Er zog die Luft durch die Zähne. »Ich hab es meiner Mutter versprochen, bevor sie gestorben ist.«
    Eine tote Mutter, dachte sie, wie soll ich denn gegen eine tote Mutter ankommen?
    Die Häuser am Straßenrand begannen sich um sie zu drehen. »Und was, wenn ich konvertieren würde?«
    Alex schüttelte wieder den Kopf. »Das gilt nicht.«
    »Wie, das gilt nicht?«
    »Du wärst trotzdem noch keine Jüdin, zumindest nicht für mich.« Er wurde noch schneller, kramte schon wieder in seiner Hosentasche. »Kann schon sein, dass du einen Rabbi findest, der was anderes sagt. Aber wenn dich nie einer Judensau genannt hat, wenn du in der Schule nicht gefragt wurdest, warum sie deine Familie eigentlich nicht auch in den Ofen gesteckt haben, wenn du dir nicht jedes Abendessen Holocaustgeschichten anhören musst, dann bist du eben keine richtige Jüdin. Da kannst du Freitagabend noch so viele Kerzen anzünden.«
    Meine Mutter sah zu Boden, konnte kaum sprechen vor Traurigkeit, keine schwere Kindheit gehabt zu haben, nicht hatte leiden zu müssen. Und glaubte das wirklich.
    Er zog die Gauloises heraus und friemelte eine neue Zigarette heraus.
    »Kennst du denn viele richtige Jüdinnen?«, fragte meine Mutter mit zittriger Stimme.
    »Nicht wirklich. Ist gar nicht so leicht in Deutschland eine zu finden.« Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. »Deine Leute haben ganze Arbeit geleistet.«
    Meiner

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